Jahresseminar 2019 - Teil 3

Veröffentlicht am 23.10.2019 in

Zeitzeuge Mgr. Jan Šícha (li.) im Gespräch mit dem Historiker Dr. Thomas Oellermann (re.)

 

Revolution ist eine schöne Zeit

Jan Šícha zur samtene Revolution in Ústi nad Labem/Aussig 1989

 

Der Prager Frühling, die Charta 77 und die Samtene Revolution 1989 sind Meilensteine in der Geschichte Tschechiens. Die Seliger Gemeinde greift immer wieder politische Ereignisse im Nachbarland auf und hat zum Jahresseminar 2019 den Zeitzeuge Mgr. Jan Šícha eingeladen, der sehr eindrucksvoll von seinen Erfahrungen als einer der Hauptorganisatoren der Samtenen Revolution 1989 in Ústi nad Labem/Aussig berichtete und sich dann den Fragen der Teilnehmer stellte.

 

Jan Šícha, Jg. 1967, ist Historiker, Journalist und Diplomat. Er war Gründungsdirektor des Tschechischen Zentrums in München von 1999 bis 2004, seit 1995 ist er im tschechischen Außenministerium tätig. Šícha engagiert sich am Collegium Bohemicum in Ústí nad Labem/Aussig als Kurator der Exposition der deutschsprachigen Bevölkerung der Böhmischen Länder. Und er gehörte zu den Studentenführern während der "Samtenen Revolution" 1989 und somit als Zeitzeuge ein sehr geeigneter Gesprächspartner zu diesem Thema.


Als Ungarn am 2. Mai mit dem Abbau des Eisernen Vorhangs beginnt, ist das Tor zur Freiheit für tausende DDR-Bürger eröffnet. Der Schauplatz verlagert sich im September 1989 in die deutschen Botschaften in Prag und Warschau und verstärkt den Druck auf die Regime in der ČSSR und der DDR. In Folge fällt im 11. die innerdeutsche Grenze, und im Dezember wird der Eiserne Vorhang auch an der österreichisch-tschechischen Grenze abgerissen.

Vorausgegangen waren Studentenstreiks, auch an der Universität in Ústí nad Labem/Aussig bei denen die Studenten damals dem kommunistischen Regime die Stirn boten. In vorderster Reihe ,it dabei war
Jan Šícha, dessen Ausführungen die Teilnehmer fesselten und der deutlich machte, wie wichtig das Projekt für die heutige Generation ist.

 

Sícha erlebte, wie jegliche öffentliche Diskussion in seinem Land unterbunden wurde. Die, die sich aus der schweigenden Mehrheit lösten, erlaubten sich, als Dissidenten frei zu diskutieren und ihre Schriften zu vervielfältigen. Indem er die Hochschule besuchte und Geschichte studierte, konnte er den zweijährigen Militärdienst umgehen. Zu Haus beziehungsweise im Umfeld von Freunden hatte sich eine Künstlergruppe gegründet, es wurde Theater gespielt, gemalt, und viel geschrieben. Mit seiner künftigen Frau, die er an der Hochschule für die Lehrerausbildung kennenlernte, hatte er 1985 die ersten verbotenen Bücher auf einer Schreibmaschine abgetippt „und dazu Kräutertee mit einem Gefühl getrunken, dass wir gerade die Weltkultur retten. Niemals später kam ich mir so wichtig vor. Ironisch gesagt, reichte uns damals Papier, eine alte Schreibmaschine und die Überzeugung, dass es ohne uns nicht geht. Seit Mitte der 80er Jahre wurden Demonstrationen immer häufiger und dort konnten wir Erfahrungen mit Schlägen, Tränengas und Wasserwerfern der Polizei machen“.

 

Šícha berichtete, wie am 17.11.1989 in Prag eine friedliche Demonstration gegen das kommunistische Regime stattgefunden hat, die von der Polizei brutal niedergeschlagen wurde. Es handelte sich um den 50. Jahrestag der Ermordung des tschechischen Studenten Jan Opletal durch die Nazis. Damals wurden anschließend die tschechischen Hochschulen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges geschlossen. Weil viele junge Leute - Studenten und Studentinnen, aber auch andere Altersgruppen - diese offizielle Demonstration nutzten, um ihren Unmut über das sozialistische Regime öffentlich zu bekunden, wurde schnell aus einer erlaubten eine verbotene Demonstration.

 

In den nächsten Tagen riefen die Studenten zu einem Studentenstreik auf, dem sich auch Künstler anschlossen. Damit begann die Sametová revoluce (Samtene Revolution).

 

Jan Šícha erzählte wie er plötzlich zum Studentenführer wurde, ohne gewählt zu sein. „Tag und Nacht wurden Flugblätter geschrieben und geklebt. Wir sprachen gezielt vor allem Arbeiter an, weil wir wollten, dass auch sie die Notwendigkeit grundsätzlicher Änderungen erkennen. Unter uns wollte damals niemand Privatisierung und Kapitalismus, jedoch war unübersehbar auch der Sozialismus gescheitert. Somit herrschten herrliche Wochen, ein Intermezzo, in dem sich jeder die Zukunft nach eigenem Geschmack ausmalen konnte und von niemandem korrigiert wurde. Unsere Studentenforderungen haben sich überraschend schnell erfüllt – Abschaffung der Zensur, Freilassung der politischen Gefangenen, Abschaffung der Volksmilizen (Arbeiter - Kampftruppen), Streichung des Paragraphen von der führender Rolle der Kommunistischen Partei in der Verfassung und freie Wahlen. Was danach kommen sollte, konnten wir uns damals kaum vorstellen“. Im Juni 1990 fanden die ersten freien Parlamentswahlen seit 1946 statt.

 

Die Revolution veränderte Šíchas Leben grundsätzlich. Während der Revolution erlebte er nach eigenen Angaben eine „schöne Zeit“. Während des Generalstreiks jubelten ihm plötzlich 70.000 Menschen für seine Worte zu. Die Zeit nach der Revolution hat viele Chancen eröffnet. „Ich konnte beispielsweise mit meiner Frau, fast ohne Geld, per Anhalter durch Europa fahren und diejenigen Galerien sehen, die wir schon immer sehen wollten“. Der Sozialismus als ein hässlicher und stupider Zeitabschnitt bleibe aber immer im Gedächtnis.

 

Jan Šícha provozierte in der anschließenden Diskussion die Teilnehmer bewusst mit seiner flapsigen Art. „Uns ging es im Prinzip gut.“ Mit leisem Spott beschrieb er das Leben unter dem Kommunismus: „Wir wurden durch eine staatliche Zwangskultur geschädigt. Ich wollte aber meine Bücher lesen und meine Musik hören, weshalb wir als Jugendliche rebellierten.“ Der Alltag sei düster gewesen, „das Essen und der Wein schlecht“. All das habe sich verbessert. In den ersten Jahren habe man in der Hoffnung gelebt – „jetzt leben wir in der Realität“. Dazu gehöre eine große Zahl von Problemen in der politischen Struktur, aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass diese nicht überhandnähmen. Ungarn, die Tschechische Republik, Polen und die Slowakei hätten zwar „schwache Regierungen mit einer zum Teil schrecklichen Symbolpolitik, sie sind aber nicht wirklich gefährlich.“

 

Die Antwort auf die Frage was aus dem Geist der Revolution geworden sei und Šíchas Blick auf die aktuelle Politik reizte zum Widerspruch. Seine Darstellung, dass es keinen „Geist der Revolution“ sondern nur Zufälle gegeben habe und dass der „Politik-Zirkus“ mit den Hauptdarstellern Trump und Johnson, keine Gefahr für die Demokratie sei, irritierte. „Es stinkt, aber es beißt nicht“, so beschrieb Šícha die aktuelle Situation in Tschechien, man habe zwar auch „Zirkus“, aber keine Kriegsfront wie in Syrien. „Es gibt viele, denen geht es schlechter als uns“, sagte Jan Šícha zum Ende der Diskussion, warnte aber vor aufkommenden Nationalismus.

 

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