Milena Jesenská: Die Gestrandeten

Die Gestrandeten

Im Artikel „Die Gestrandeten“ (27.10.1937) befasst sich Milena Jesenská mit dem Schicksal deutscher Emigranten. Sie fragt „wer sind diese Menschen?“. In Prag leben zu der Zeit insgesamt etwa 3500 deutsche Emigranten. Sie kommen aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten: Arbeiter und Handwerker, Beamte, Angestellte und Intellektuelle. Die erste Kategorie ist in der Mehrheit, zu ihr

gehören die Funktionäre der sozialistischen Parteien und der gewerkschaftlichen Organisationen, dann kommen die freien Berufe und schließlich Beamte und Angestellte. Frauen und Kinder machen etwa ein Fünftel aus. Jesenská beschreibt diese Gruppe aus Hilfesuchenden sehr genau und mit Weitsicht: „… das Dritte Reich hat es nicht nur auf Kommunisten und Sozialdemokraten abgesehen.

Durchaus denkbar, dass wir auch noch erleben, wie katholische und evangelische Pfarrer über die Grenze kommen.“

Die Autorin lässt aber auch keine Zweifel, dass diese Emigranten Verfolgte des Naziregimes waren: „Die ersten, die kamen, waren deprimiert, verzweifelt, manchmal blutüberströmt. Sie kamen zu Fuß, ohne einen Heller, ohne Papiere, und hatten mehrere Tage nichts gegessen. Das waren die politischen Flüchtlinge, Arbeiter, Redakteure, Schriftsteller, Gewerkschafter, meist junge Kerle aus der deutschen Sozialistischen Jugendbewegung. ... Dann kamen die jüdischen Emigranten und alle, die aufgrund einer Mischehe in Gefahr waren, und dann die so genannten Wirtschaftsemigranten, meist jüdische Kaufleute und Unternehmer“.

Der Artikel der Journalistin zeugt von gutem Detailwissen, wie es um die Lebenssituationen im Deutschen Reich steht. „Es sind Einzelne, die ein, zwei, drei Jahre oder länger ausgehalten haben. Ausgehalten haben bei ihrer politischen Arbeit, viele davon verfolgt und immer wieder verhaftet. Wer nur die geringste Ahnung von dem riesigen Spitzelapparat hat, den ein totalitärer Staat unterhält, um totalitär zu bleiben, kann sich eine vage Vorstellung davon machen, wie in Deutschland

das Leben eines Arbeiters, Angestellten, Intellektuellen oder inzwischen auch eines überzeugten Katholiken  oder Christen aussieht, der beschlossen hat, für die Erneuerung der demokratischen Freiheiten zu arbeiten. Sie alle waren im Konzentrationslager, in Kerkerhaft — und oft nicht nur einmal. Zurückzukehren hieße für sie das Leben drangeben“. 

Jesenská informiert ihre Leser auch über die Folgen der restriktiven Aufnahmepolitik ihres Landes: „Als 1933 die erste Welle der deutschen Emigration heranrollte, wussten sich die Hilfsorganisationen keinen Rat. Damals begann, was man heute Patronat nennt. Hier vor euch steht ein Mensch, er hat nur ein einziges Hemd und seine Hände sind blank. Er ist gesund, arbeiten darf er nicht, aber essen muss er. Arbeiterfamilien im Kreis Kladno, Most, Ostrava, Brno haben für diesen Menschen zusammengelegt. Geld konnte ihm keiner geben, weil keiner was hatte. Aber einer gab am Morgen

einen Getreidekaffee, der Zweite den Rest vom Mittagessen, der Dritte ein unentgeltliches Obdach. … . Zunächst gaben die Leute unregelmäßig, dann haben sie sich verpflichtet, systematisch zu geben … . Aber ein Mensch, der seine Heimat verloren hat, würde sich für einen Teller Kartoffelsuppe auch gern mit ein bisschen Arbeit erkenntlich zeigen. … Aber ein Mensch, der sein Zuhause verloren hat, darf nicht mehr als Danke sagen. Nicht einmal Holz hacken darf er“. Eine Beschreibung die auch an heutige Flüchtlingsschicksale erinnert!

„Stellen Sie sich also einen Flüchtling vor, einen zum zweiten Mal von einem geschenkten Bissen Verjagten, wie er Kilometer um Kilometer hinter sich bringt, um einen Ort zu erreichen, den er nicht kennt, an dem er nie war, wo er jedem fremd ist und wo es viele deutsche Henlein-Anhänger gibt, seine und unsere Feinde. Stellen Sie sich vor, wie er schutzlos im Freien steht, ohne Essen, ohne die Chance auf Arbeit und ohne Zukunft“. - Jesenská stellt dabei ganz unterschiedliche Emigrantenschicksale vor.

Schließlich greift die Autorin aber auch die abscheuliche Seite der Emigration auf – die Geschäftemacher, die sich an der Not der Menschen bereichern und sie fordert eine neue Wohltätigkeit ihrer Landsleute: „Die Wohltätigkeit nimmt mit der Not ab. Denn Sie müssen wissen, es gilt folgendes Gesetz: Nicht die Katastrophe durchzustehen ist schwer, sondern die lange Stille danach. Wohltätigkeit ist eine Quelle, die allmählich versiegt. Und vier Jahre Emigration sind nicht nur Hunger und Elend, Not, Verlassenheit, Einsamkeit, Heimweh und aufgezwungener Bettelstand, vier Jahre Emigration sind ein schrecklicher, ein unerträglicher Seelenzustand“.                                                        

Milena Jesenská warnt ihre Landsleute eindrücklich vor den Nazis: „Fremde Menschen, die eine fremde Sprache sprechen, aus einem fremden Land gekommen. Aber eines ist uns gemeinsam:  Beim Wort Hakenkreuz schnüren uns dieselben Empfindungen das Herz ab. So ein Häufchen Flüchtlinge kann uns lehren, was dieses Hakenkreuz ist: Sie sind lebende Zeugen ungeheurer Brutalität und machtvoller Lüge. Ein Zeugnis, das sie am eigenen Leib tragen, und ist unter uns ein Thomas, der nicht glauben will, so kann er hingehen und sie mit dem Finger berühren“.

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