Jahresseminar 2019 - Teil 2

Veröffentlicht am 23.10.2019 in

Der Journalist Ulrich Miksch (li.) moderiert die Gesprächsrunde mit Ilko Keßler, ver.di Ostsachsen (re.)

 

Forum Bad Alexandersbad: Hranice práce / Grenzen der Arbeit

Seliger Gemeinde befasst sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen

 

2018 etablierte die Seliger Gemeinde zu ihrem Jahresseminar im Evangelischen Bildungs- und Tagungszentrum Bad Alexandersbad ein eigenes gesellschaftspolitisches Gesprächsforum für den deutsch-tschechischen Dialog, das Forum Bad Alexandersbad. Nachdem 2018 der tschechische Europa-Politiker Libor Rouček und der Historiker Dr. Thomas Oellermann die Frage diskutierten, ob die letzten 100 Jahre ein „sozialdemokratisches Jahrhundert“ waren, befasste man sich heuer mit dem Thema „Grenzen der Arbeit“.

 

Dr. Thomas Oellermann zeigte eingangs den beim Internationalen Dokumentarfilmfestival Jihlava/Iglau 2017 als bester tschechischer Dokumentarfilm geehrten Streifen Hranice práce (Grenzen der Arbeit - Regie: Apolena Rychlíková), den er mit deutschen Untertiteln ausgestattet hatte: Gesetzwidrige Arbeitsbedingungen und niedrige Löhne sind auch in Tschechien für viele Menschen tägliche Realität. Fast ein Fünftel der Beschäftigten arbeitet für einen Stundenlohn, der gerade für einen Becher Kaffee reicht. Die Journalistin Saša Uhlová probierte im Selbstversuch, wie es sich anfühlt, für so wenig Geld zu arbeiten, und sie traf die Menschen, die auf die mies bezahlten Jobs angewiesen sind. Mit einer versteckten Kamera in der Brille dokumentierte sie die Arbeit vor Ort. Außerhalb der Arbeitsstätten ließ sie sich von der Regisseurin Apolena Rychlíková und ihrem Filmteam begleiten und berichtete über ihre Erfahrungen und Begegnungen.

Saša Uhlová war jeweils einen Monat in einer Krankenhauswäscherei, einer Geflügelfabrik und an einer Supermarkt-Kasse tätig, sowie wochenweise am Fließband und in der Abfallentsorgung. Überall wurde in Schichten gearbeitet, die Arbeit war hart und die Arbeitsbedingungen waren schlecht oder gar gesetzeswidrig. Und doch traf die Journalistin auf Menschen mit einem erstaunlichen Arbeitsethos, der jedoch häufig in persönlichen Zwangslagen begründet war.

In der anschließenden Diskussion mit dem Gewerkschafter Ilko Keßler aus Dresden, der durch seine grenzüberschreitenden Treffen mit tschechischen und polnischen Gewerkschaftern einen sehr guten Einblick in die Arbeitsbedingungen im Dreiländereck hat, wurde die Thematik ausführlich besprochen. Dass die Arbeitsbedingungen in Tschechien, wie im Film gezeigt, für diejenigen, die auch für uns die „Drecksarbeit“ machen, die uns mit ihren Billiglöhnen immerfort niedrige Preise garantieren, noch schlimmer sind als in Deutschland, musste Keßler, wie auch im Film zu sehen, leider bestätigen: Zum Beispiel haben Mitarbeiter*innen oft keine Möglichkeit, aufs Klo zu gehen, weil die Bänder weiterlaufen und weit und breit niemand ist, der sie vertreten könnte.

Die Arbeitslosenquote in Tschechien ist so niedrig wie nie. Tatsächlich beklagen Firmen schon seit Längerem einen Mangel an Arbeitskräften, vor allem Facharbeiter und IT-Experten werden gesucht. Trotzdem gibt es zigtausende prekäre Arbeitsverhältnisse: Menschen ohne Ausbildung oder aus sozial schwachem Umfeld, die von den Arbeitgebern auf unterschiedliche Weise ausgebeutet werden. Dazu kommt ein meist sehr unfreundliches Klima am Arbeitsplatz, weil stets zu wenig Personal zur Verfügung steht“, so beschriebt Keßler die aktuelle Situation. Es bleibe keine Zeit, neue Angestellte anzulernen, die Erklärungen beschränkten sich auf schroffe Befehle. Die Beschäftigten misstrauten einander, und die Chefs behandeln Neueinsteiger grob, denn sie wissen, dass diese sowieso früher oder später kündigen würden.

Eigentlich müsste fehlendes Personal das Gehalt nach oben treiben. In bestimmten Bereichen ist das mittlerweile auch so, ergänzte Keßler: „Supermarktketten haben schon mehrmals die Löhne erhöht, um neue Angestellte anzulocken. Die Neueinsteiger verdienen manchmal mehr, als diejenigen, die schon mehrere Jahre in gleicher Position arbeiten“. In anderen Berufen komme es jedoch nicht zu Verbesserungen. Die prekär Beschäftigten seien einfach nicht in der Lage, für ihre eigenen Interessen zu kämpfen. In solchen Firmen gebe es auch keine Gewerkschaftsorganisation, so Keßler weiter.

Die Bezahlung einer 12-stündige Arbeit in einer penetrant stinkenden und mit Ratten bevölkerten Abfallsortieranlage liege nur knapp über dem Mindestlohn. Das bedeute 11.000 Kronen oder umgerechnet 420 Euro, so der Gewerkschafter. Es bestehe ein Unterschied, ob man mit dem Mindestlohn von 11.000 Kronen in Prag oder in einer Kleinstadt leben müsse. In Prag lebten viele sozial schwache Menschen in Wohnheimen, weil sie die Miete für eine Wohnung nicht zahlen können.

Wenn man über prekäre Arbeit redet, bedeutet das nicht, dass alle Betroffenen in finanzieller Not sind. In der Krankenhauswäscherei waren zum Beispiel die Arbeitsbedingungen nicht ganz schlecht, die Entlohnung war aber äußerst niedrig. In der Fleischfabrik war dies umgekehrt“, stellte Keßler dar.

Der Film, der auch in Ausschnitten im öffentlich-rechtlichen Tschechischen Fernsehen gezeigt wurde und dass das Thema in einigen Printmedien publiziert wurde sorgte dafür, dass über prekäre Arbeit öffentlich diskutiert wurde, so Moderator Ulrich Miksch. Ilko Keßler verwies abschließend auf eine Kampagne des tschechischen Gewerkschaftsbundes, die ein Ende der prekären Arbeit fordert. Immer mehr Menschen hierzulande seien für gerechte Arbeitsbedingungen sensibilisiert.

Trotzdem seien die Mitgliedszahlen der tschechischen Einzel-Gewerkschaften gering. Die mit Abstand größte gewerkschaftliche Dachorganisation in der Tschechischen Republik, ČMKOS, hatte im Jahr 2007 knapp über 500 000 registrierte Mitglieder, 2003 waren es noch 800.000. Im Jahr 1995 waren noch 2,45 Millionen Beschäftigte allein in der CMKOS organisiert. Heute vertrete die ČMKOS nur noch knapp 300.000 Beschäftigte bei einer tariflichen Abdeckung von 38% (D=59%) und einem Organisationsgrad von 16% (D=18%).

Die Ursachen sind vielfältig: Zu nennen ist der Strukturwandel, bei dem Großunternehmen an Bedeutung verloren und kleine und mittlere Unternehmen (KMU), in denen Gewerkschaften generell schwieriger Fuß fassen, wichtiger wurden. Gleichzeitig verringerte die Ansiedelung multinationaler Konzerne den Anreiz einer gewerkschaftlichen Mitgliedschaft, weil sie über dem Niveau nationaler Unternehmen entlohnen. Schließlich wurden wichtige Rechte der Gewerkschaften beschnitten: So dürfen Gewerkschaften nach einem Entscheid des Verfassungsgerichts im Jahr 2008 nicht mehr die Einhaltung arbeitsrechtlicher und tarifvertraglicher Bestimmungen in den Betrieben überwachen. Zudem sind die Gewerkschaften vorrangig auf betrieblicher und nicht auf der Branchenebene organisiert.

Die Organisationsschwäche schlägt sich in einer geringen Tarifbindung nieder. Sie lag zuletzt bei 34 Prozent. Tarifverträge werden überwiegend auf der betrieblichen Ebene ausgehandelt und gelten in der Regel für ein Jahr, während Branchentarifverträge meist für zwei oder mehrere Jahre abgeschlossen werden.

Trotz verminderter Rechte ist der aus mindestens drei Personen bestehende betriebliche Gewerkschaftsausschuss nach wie vor das wichtigste Vertretungsorgan für Arbeitnehmer. Ein Betriebsrat, der seit 2001 nach Anfrage von mindestens einem Drittel der Belegschaft eingerichtet werden kann, hat weniger Rechte als der Gewerkschaftsausschuss. Wird eine gewerkschaftliche Vertretung in einem Betrieb gegründet, so muss der Betriebsrat aufgelöst werden. Wo Betriebsräte agieren dürfen, haben sie lediglich ein Informationsrecht. Insgesamt existieren nur sehr wenige Betriebsräte. In den meisten Betrieben gibt es keine Arbeitnehmervertretung.

Allgemeiner Konsens war, dass es vor allem Ziel sozialdemokratischer Politik sein muss, den Schulterschluss zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften immens wichtig ist und zwingend europaweit (wieder-)hergestellt werden müsse. So wäre vielleicht auch die Talfahrt der sozialdemokratischen Parteien aufzuhalten und umzukehren.

 

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