Seliger Gemeinde fordert Selbstbestimmungsrecht für die Kurden

Veröffentlicht am 21.10.2019 in

Der amtierende Landesvorsitzende Peter Wesselowsky zum Selbstbestimmungsrecht der Völker anlässlich der türkischen Invasion der Türkei im syrischen Kurdengebiet

Im Spätsommer 2017 sah es noch recht gut aus für die Kurden: Unter der Führung der syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und mit militärischer Unterstützung aus den USA war es gelungen, die Terrormiliz Islamischer Staat aus ihrer Hauptstadt Rakka zu vertreiben. Basis dieses Erfolges war die Kooperation von YPG-Kämpfern mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF). Der gemeinsame Feind einte diese arabisch-kurdische Koalition: Zuvor hatten rund 2.000 US-Soldaten die Truppen für die Schlacht gegen die Dschihadisten ausgebildet und ausgerüstet. Sie erhofften sich auch Unterstützung für ihre eigenen politischen Belange: einen eigenen Staat. Im Kampf gegen den IS-Terrorismus waren sie unsere Verbündeten, jetzt werden die Kurden in Nordsyrien von den USA und Europa dem Diktator Erdogan ausgeliefert. Es sind die gleichen Kurden, die als mutige Kämpfer die Jesiden vor dem IS retteten – doch das spielt keine Rolle mehr.

Aber Menschen, die Freiheit, Gleichheit und Selbstbestimmung erlebt haben, werden immer wissen, was sie wollen und sich dafür einsetzen“, das erklärte schon Josef Seliger 1919, also vor genau 100 Jahren, als es darum ging, das Selbstbestimmungsrecht der Deutsch-Böhmen im neuen Tschechoslowakischen Staat einzufordern. Wie es in Krieg, Flucht und Vertreibung endete, wissen wir alle.

Die Kurden stellen unbestritten ein eigenständiges Volk dar

Die Kurden, deren Bevölkerungsgröße heute auf 33 bis 40 Mio. geschätzt werden kann, haben mit eigener Sprache und Kultur eine ethnische und kulturelle Identität, die sie von den Mehrheitsvölkern in den Staaten, in denen sie leben, unterscheidet. Gleichzeitig haben sie untereinander eine gemeinsame historische Tradition. Als eins der ältesten Völker der Region leben sie seit hunderten von Jahren in ihrem jetzigen, geschlossenen Siedlungsgebiet, in dem sie quantitativ ein bestimmender Bevölkerungsfaktor sind. Während andere Völker inzwischen verschwunden sind, existieren sie weiterhin unter Wahrung ihrer grundlegenden Besonderheiten. Trotz ihrer internen sozialen Gespaltenheit und obwohl ihr traditionelles Siedlungsgebiet heute von Staatsgrenzen durchschnitten wird, haben sie weiterhin gemeinsame Traditionen, Werte und Symbole und eine gemeinsame Kultur. Darüber hinaus sehen sie sich als Volk und Teil einer gemeinsamen Nation und beziehen sich auf gemeinsame nationale Symbole wie die Feier des traditionellen Newroz-Fests am 21. März, eine gelb-rot-grüne Fahne und eine Nationalhymne. Seit dem letzten Jahrhundert haben sie wiederholt das Selbstbestimmungsrecht der Völker für sich eingeklagt .

Gleichzeitig stellen die Kurden, wie andere Völker auch, in den jeweiligen Staaten gegenüber der Mehrheit des Staatsvolks eine (nationale) Minderheit dar und sollten deshalb völkerrechtlich wenigstens als Träger der in diesem Zusammenhang vorgesehenen individuellen Rechte des Minderheitenschutzes behandelt werden. In diesem Sinne sollte das Selbstbestimmungsrecht der Kurden, die aufgrund der politischen Teilung ihres Siedlungsgebiets in den jeweiligen Staaten zahlenmäßig in der Minderheit sind, nicht auf die individuellen Minderheitenrechte reduziert werden. Neben den Kurden, die weiterhin in Kurdistan leben, gibt es eine große Gruppe von Kurden, die mit Gewalt oder aus anderen Gründen gezwungen wurden, ihr traditionelles Siedlungsgebiet zu verlassen und an andere Orte in den Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien oder in andere Länder wie z.B. die ehemalige Sowjetunion, den Libanon oder nach Israel zu ziehen. Auch diese migrierten oder vertriebenen Kurden sollten dort ihre Minderheitenrechte in Anspruch nehmen können

Auch die Deutsch-Böhmen kämpften vor 100 Jahren um das Selbstbestimmungsrecht

Das Recht auf Selbstbestimmung blieb auch den in der 1918 neu gegründeten Tschechoslowakei lebenden Deutschen verwehrt. Die tschechoslowakische Besatzung verhinderte die Teilnahme der Deutsch-Böhmen an der am 4. März 1919 stattfindenden Eröffnungssitzung der Nationalversammlung. In der neu gegründeten Republik Deutsch-Österreich sah die deutsche Bevölkerung in Böhmen die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts. Es kam zu friedlichen Demonstrationen, zu denen auch Josef Seliger als stellvertretender Landeshauptmann und Führer der deutschen-böhmischen Sozialdemokratie aufgerufen hat.

In seinen Ausführungen beschreibt Seliger die Ursachen des Konflikts, der nach dem I. Weltkrieg in viele Staaten gepflanzt wurde: „Der Zerfall der Habsburger-Monarchie hat auch die tschechische Nation von den alten Fesseln des Nationalitätenstaates befreit. Diese Nation geht daran, ihren eigenen Staat zu schaffen, aber sie will sich nicht damit bescheiden, ihn in den Grenzen ihrer Volkheit aufzubauen, sondern sie greift darüber hinaus. Die tschechische Nation will andere, ebenso wie sie freigewordene Völker, Slowaken, Deutsche, Polen, Magyaren, Ruthenen, in ihr Gebiet einverleiben. Sie will also einen neuen Nationalitätenstaat aufrichten. Aber sie ladet nicht diese Völker ein, einen gemeinsamen Staat auf Grund ihres freien Willens mit den Tschechen zu gründen, sondern sie will sie mit Gewalt diesem Staat unterwerfen. Es soll kein Nationalitätenstaat freier Völker sein, sondern ein Staat, in welchem die tschechische Nation über die anderen Nationen national herrscht“.

Doch Josef Seliger stellt auch ein Gegenmodell auf

Stellen wir als Beispiel folgende Erwägung an: nehmen wir an, die tschechische Bourgeoisie hätte nach dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie, als sie daranging, ein eigenes Staatswesen zu errichten, den Weg zur Verständigung mit den Deutschen gesucht. Sie hätte damals die Deutschen nicht als Rebellen und Hochverräter abgewiesen, sondern eingeladen, mit dem tschechischen Volke zusammen ein gemeinsames übernationales Staatswesen, etwa wie die Schweiz, zu begründen. Und nehmen wir an, die Deutschen wären auf diesen Vorschlag eingegangen, Deutsche und Tschechen hätten sich über den gegenseitigen Schutz ihrer Volkheit verständigt, durch Vereinbarungen gegenseitig den Bestand und die Unverletzlichkeit der nationalen Rechte gesichert und der Staat wäre auf der Grundlage des freien Willens der Deutschen und Tschechen begründet worden“. Dann würde dieser Staat auf dem Willen der Nationen beruhen, die ihn bewohnen, dass sie ihn begründen aus dem Rechte ihrer freien Selbstbestimmung, dass er in diesem Sinne ein Rechtsstaat und kein Gewaltstaat sei.

Und Josef Seliger zieht daraus folgende Konsequenz: „Gewaltherrschaft und Demokratie schließen einander aus. Denn es ist ein ewiges Gesetz der Staatenbildung, dass die Mittel, durch die ein Staat gegründet wurde, durch sein ganzes Leben fortwirken und sein Wesen bestimmen. Schuf ihn die Gewalt, so kann er auch nur durch die Gewalt erhalten werden, und niemals ist in ihm die Demokratie möglich. … Denn was würde geschehen, wenn sie die Gewalt von den unterworfenen Völkern nehmen würde? Die Völker würden sich sofort erheben um sich ihr Recht zu schaffen.Ständen die Völker nicht mehr unter dem Druck der Gewalt, dann würden sie sofort darangehen, ihr Selbstbestimmungsrecht auszuüben und ihre eigenen freien, selbstständigen Staaten zu bilden.“

Parallelen zwischen den Kurden und den Deutsch-Böhmen

Genau vor hundert Jahren brach auch der türkische Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk sein Versprechen, den Kurden größte Unabhängigkeit zu gewähren, sollten sie ihn bei der Gründung der modernen Türkei unterstützen. Den Kruden wurde nach dem I.Weltkrieg einerseits das Recht auf Selbstbestimmung zugebilligt. Andererseits wurde das kurdische Gebiet aufgeteilt. Es gibt viele Parallelen zwischen den Kurden und den Deutsch-Böhmen, was das verwehrte Selbstbestimmungsrecht, die Loyalität gegenüber dem Staat und dem Untergang in Krieg und Vertreibung betrifft.

Bereits seit 2015 geht die türkische Armee gegen kurdische Stellungen in Nordost-Syrien vor, obwohl diese sich dort – im Auftrag des Westens – den Kämpfern des IS entgegenstellten. Der erneute Verrat des Westens gegenüber den ehemaligen Verbündeten wird wieder tiefe Wunden reißen und erneut Gewalt provozieren. Der überraschende Rückzug der US-Truppen aus Nordsyrien und Trumps zynische Äußerung zu seiner „großartigen und unvergleichlichen Weisheit“ verschärfen die Lage weiter. Die geplante Einrichtung einer Sicherheitszone an der syrischen Grenze zur Türkei bedeutet wohl nichts anderes, als die Vertreibung der Kurden aus dem Gebiet, in das dann die syrischen Flüchtlinge, die in der Türkei leben, umgesiedelt werden sollen. Dagegen werden sich die Kurden verzweifelt wehren. Ein kriegerischer Konflikt mit all seinen Härten und Flüchtlingen und Vertriebenen ist die Folge.

Aus der Geschichte nichts gelernt

Weder Syrien, noch der Irak, noch der Iran oder die Türkei hatte jemals die Absicht, den Kurden entgegenzukommen. Sie fürchten alle, dass deren Aufwertung sofort die ohnehin labile Machtbalance sowie die territoriale Integrität der Regionalmächte gefährdet. Die einzigen, die den Kurden Sympathie vorheuchelten, waren westliche Politiker wie der US-Außenminister Rex Tillerson.

Alles in allem ist tatsächliche und ernstgemeinte politische Unterstützung für die Kurden angesagt: als ein Akt der demokratischen Selbstachtung und als ein Zeichen des Aufbegehrens gegen den zynischen Moralismus westlicher Politik.

Klar muss aber aus der Geschichte folgendes Fazit gezogen werden: Nicht neue Grenzziehungen und territoriale Einheit können und sollen die Folge der Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes sein, wie das gewöhnlich bezweckt war bis in den Balkankonflikt der 1990er-Jahre hinein, sondern die Zusammenarbeit unterschiedlicher Volksgruppen in ein und demselben Staat, mit kultureller, die Identität wahrender Autonomie einer jeden Bevölkerungsgruppe. Das alte Österreich-Ungarn war ein gutes Beispiel dafür gewesen, und das neue Europa muss versuchen, dem Beispiel zu folgen und solche Bestrebungen unterstützen.

Zitate aus: Josef Seliger - Warum kämpfen wir für das Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes? ( 1919 )


 


 


 

 

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