Frühjahrsseminar 2017 - Teil 4

Veröffentlicht am 14.05.2017 in

Ulrich Miksch (li) im Gespräch mit Jan Šícha, der zu den Studentenführern in Usti nad Labem während der "Samtenen Revolution" 1989 gehörte und heute Berater von Ministerpräsident Bohuslav Sobotka (CSSD) ist. Šícha ist zudem im Auswärtigen Amt tätig, ist Kurator der geplanten Dauerausstellung zur Geschichte der Deutschen aus den böhmischen Ländern und leitete das Tschechische Zentrum in München

 

„Leider ist kein Martin Schulz in Sicht“

Jan Šícha zur politischen Großwetterlage in Tschechien Wahljahr 2017/18

Mit einer kurzweiligen und interessanten Gesprächsrunde zur politischen Großwetterlage im tschechischen Wahljahr 2017, bei der sich die Seminarteilnehmer mit eigenen Ansichten und vielen Fragen bestens einbringen konnten, ging das Frühjahrsseminar 2017 zu Ende.

Präsident Miloš Zeman, einem geschickten Polit-Strategen und Polterer, würden im Präsidentschaftswahlkampf die besten Chancen zugeschrieben, so die Feststellung des Diplomaten Jan Šícha.  "Zeman steht für eine strikte Trennung zwischen der Unterschicht und einer kleinen Gruppe der Elite", erklärte Šícha. Zeman propagiere die Passivität der breiten Masse in der Politik, die das Handeln den Auserwählten überlassen soll. Bürgerbewegungen, kritische Stimmen, Intellektuelle und nicht handzahme Journalisten zählen nicht zu seinen Lieblingen. Tschechiens Präsident sei Pragmatiker, solange ihm eine Meinung nützt, solange vertrete er sie.

Zeman verstehe es, die ´Verlierer der Freiheit´ zu mobilisieren, so Šícha. Er spreche vor allem Menschen an, die gegen die Globalisierung sind, die zutiefst verunsichert und vor allem schlecht bezahlt sind. Šícha erwartet von Zeman einen symbolhaften, trumpähnlich Wahlkampf, geprägt von unberechenbaren, wandelbaren Meinungen und gespickt mit sogenannten FakeNews. „Miloš Zeman will Inhalte überwinden, setzt auf reines Theater, was sich vor allem in großen staatlichen Bauprojekten, die einen gewissen Gigantismus ausstrahlen, manifestiert“, erklärt Šícha den Teilnehmern. Zeman sei ein Kasinospieler, der die Menschen missachte. Er sei kein Humanist, der die Situation für die Menschen besser machen möchte, so die Einschätzung des Referenten. Die tschechische Demokratie wird aber auch das noch überleben", beruhigt Šícha die interessierten Zuhörer. Einen ernsthaften Gegenkandidaten erwartet der Referent erst nach den Parlamentswahlen.

Erst seit kurzem mische eine neue Partei die politische Landschaft Tschechiens auf, so Šícha weiter. Die ANO 2011 des Milliardärs Andrej Babiš.  ANO dechiffriere sich offiziell als ´Aktion beunruhigter Bürger´, das Wort bedeute im Tschechischen aber auch ´Ja´, so der Referent. „Die Partei vertritt ein Programm aus politischen Gemeinplätzen wie Kampf gegen die Korruption und für ein gerechteres Steuersystem, bessere Bildungschancen und gleiche Regeln für alle. Sie lebt in ihrer Agitation wesentlich von der Persönlichkeit des Parteigründers“, stellt Šícha klar. 

Auch in Tschechien sieht Jan Šícha eine zunehmende Entfremdung der Menschen von den gesellschaftlichen Eliten, genau so wie in Großbritannien, was zum Brexit geführt hat, oder wie in den USA, was zur Wahl Donald Trumps führte.

Die tschechische Sozialdemokratie könne aber mit den ´Verlierern der Freiheit´ nicht umgehen, sie kann ihre natürliche Wählerschaft nicht ansprechen, bedauert Šícha. Dies sei ein Versagen auf ganzer Linie. Was bleibe sei nur die ´Bestechung´ der Wähler mit einem höheren Mindestlohn, mehr Rente und einer besseren ärztlichen Versorgung.

Der Aufstieg der ANO 2011 scheint vor allem auf Kosten der tschechischen Sozialdemokraten von der CSSD zu gehen. Deren Umfragewerte seien deutlich gesunken; sie dürfte aber stärkste politische Kraft bleiben, ist Jan Šícha überzeugt. Die Regierungsbildung in Tschechien dürfte aber schwierig werden: Wenn die Sozialdemokratie sich nicht entscheidet, den seit 1990 geltenden politischen Bann gegen die Kommunisten aufzubrechen und sie in Koalitionsverhandlungen einzubeziehen, dürfte es wieder auf eine sozialdemokratisch-konservative Koalitionsregierung hinauslaufen.

Leider könne die tschechische Sozialdemokratie auf keinen Martin Schulz zurückgreifen, bedauert Jan Šícha. Die tschechische Sozialdemokratie könne auch keine 13.000 Mitglieder zurückholen, denn die habe sie niemals verloren. Die Sozialdemokraten zählten heute in ganz Tschechien weniger als 22.000 Mitglieder, soviel hatten die sudetendeutschen Sozialdemokraten der ersten Republik alleine in ihrer Hochburg, der Industriemetropole Ostrava. „Wir hatten keinen Willy Brandt, keinen Helmut Schmidt, unsere Mitglieder sind z.T. Jahrgang 1920“, fasst Šícha die ganze Tragik der tschechischen Sozialdemokratie zusammen. Zudem sei die Partei stark verschuldet. Die Hoffnung der tschechischen Sozialdemokratie liege allein auf den Auslandsstudenten, die in die Partei eintraten, weil sie in einem der Ministerien Arbeit fanden – sie würden auch eine Zeit in der Opposition überstehen, zeigte sich Šícha überzeugt.

Interessant für die Teilnehmer war die Analyse Jan Šíchas zum Phänomen Martin Schulz: „Schulz steht für einen ausgeprägten Humanismus und bedient damit die Mitte der Gesellschaft, er zeigt Verständnis für die Sorgen der Arbeiter und „kleinen Leute“ und bedient so das linke Spektrum. Schulz steht für einen ´Sozialismus ohne Revolution´ und ist damit keine Gefahr für die Wirtschaft. Schulz stellt sich gegen Rechts und nimmt dafür die Minderheiten für sich ein!“ Was Jan Šícha aber fehlt, ist das progressive, kämpferische Element in der deutschen Sozialdemokratie.

 

 

 

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