Frühjahrsseminar 2017 - Teil 2

Veröffentlicht am 29.04.2017 in

Foto: Siegfried Träger

Neben der Tagesexkursion nach Altrohlau (s.Bild) gehörte zum Frühjahrsseminar der Seliger Gemeinde in Bad Alexandersbad auch eine gehörige Portion "Politische Bildung" - insbesondere in Bezug auf unsere tschechischen Nachbarn. Was liegt 2017 näher als das Thema Charta 77!?

 

40 Jahre Charta 77

Mit Rockmusik in die Freiheit

 

Vor vierzig Jahren wurde die Charta 77 gegründet. Dieser Name bezeichnet sowohl die im Januar 1977 in der Tschechoslowakei verfasste Petition als auch die mit ihr verbundene Bürgerrechtsbewegung. Der am 6. Januar 1977 herausgegebene Text machte auf die Nichteinhaltung der Menschenrechte in der kommunistischen Tschechoslowakei in der Zeit der so genannten Normalisierung aufmerksam. Zu den ersten Unterzeichnern gehörten bekannte Persönlichkeiten wie der Dramatiker und spätere tschechoslowakische Präsident Václav Havel. Thomas Oellermann präsentierte beim Frühjahrsseminar 2017 der Seliger Gemeinde in Bad Alexandersbad einen eindrucksvollen tschechischen Film zu den Anfängen der Bürgerrechtsbewegung Charta 77.

Der wunderbare Mandarin

Die Verhaftung der tschechische Undergroundband The Plastic People of the Universe im Jahr 1976 war der Auslöser für die Charta 77. Die Band machte psychedelische Musik und war einer der Protagonisten des tschechoslowakischen Undergrounds der 1960er und 1970er.

Die Band wurde von dem Schriftsteller Ivan Martin Jirous im September 1968, einen Monat nach der Niederschlagung des Prager Frühlings gegründet. Der Name der Band stammt von einem Stück auf Frank Zappas Platte Absolutely Free, Plastic People. Die Band verweigerte sich konsequent staatlichen Auflagen und spiegelte in Texten und Einstellung eine gegenkulturelle Auffassung wider. Sie verstand sich allerdings nicht als politisch in einem simplen Verständnis und machte in ihren Liedern auch keine explizit politischen Aussagen. Einer der bekanntesten und im Film immer wieder eingespielte Titel war Der wunderbare Mandarin.

Es entstand eine Untergrundbewegung, ein Zirkel, in dem sich andere Bands, Sänger, Dichter und Künstler um die Plastic People scharten. Immer wieder gab es zwischen den Anhängern dieser Bewegung und den staatlichen Institutionen Zusammenstöße und Schlägereien, es kam vielfach zu Verhaftungen.

Das Verbot der Gruppe 1976, die Scheinprozesse und die Inhaftierung einiger Mitglieder waren wichtige Gründe für die Entstehung der Charta 77. Auf die Verhaftung folgte eine Kampagne in den staatlichen Medien, in der sowohl die Plastic People speziell, als auch der Underground allgemein als asozial, arbeitsscheu und drogenabhängig dargestellt wurden.

Bürgerrechtler Václav Havel erkannte nun, dass „hier nicht mehr mit politischen Gegnern abgerechnet wurde (. . .), es war etwas Schlimmeres: der Angriff des totalitären Systems auf das Leben selbst, auf die menschliche Freiheit und Integrität“. In der Folge vereinigten sich verschiedene Widerstandsgruppen zu einer Kampagne - und bildeten schließlich das Fundament der Charta 77.

 

Von der Charta 77 zur Samtenen Revolution

Ende 1976 schlossen sich Künstler und Intellektuelle, aber auch Arbeiter, Priester, Exkommunisten und ehemalige Mitarbeiter des Geheimdienstes und andere, gewöhnliche Tschechoslowaken zusammen. Unabhängig voneinander und im Geheimen wurde die Idee der Charta 77 nur mündlich unter Freunden verbreitet und Unterschriften auf neutralen Zetteln gesammelt. So sollte verhindert werden, dass im Vorfeld der Inhalt der Petition und die Unterzeichnerliste der Staatsmacht in die Hände fällt. Bis Silvester 1976 unterschrieben 242 Menschen den Aufruf.

Die Übergabe der Petition an das Parlament wurde unterbunden, das Regime konnte aber nicht verhindert, dass die Charta an die Öffentlichkeit gelangte. Am 6. Januar 1977 veröffentlichte die französische Tageszeitung Le Monde die Proklamation der Charta. Weitere Zeitungen im westlichen Ausland, wie die Times und die Frankfurter Allgemeine Zeitung, folgten. Noch am selben Tag schlägt die StB zu: Václav Havel, sein Schriftsteller-Kollege Ludvík Vaculík und der Schauspieler Pavel Landovský werden verhaftet. In der Tschechoslowakei wurde der Text in den Massenmedien nicht veröffentlicht.

Dort heißt es: „Die Charta 77 ist keine Organisation, hat keine Statuten, keine ständigen Organe und keine organisatorisch bedingte Mitgliedschaft. Ihr gehört jeder an, der ihrer Idee zustimmt, an ihrer Arbeit teilnimmt und sie unterstützt. Sie will dem Gemeininteresse dienen, wie viele ähnliche Bürgerinitiativen in verschiedenen Ländern des Westens und des Ostens.“

Die Verfasser des Textes berufen sich auf die KSZE-Schlussakte von Helsinki. Sie ist im März 1976 auch in der Tschechoslowakei in Kraft getreten. Und die Machthaber in Prag haben sich darin verpflichtet, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu achten. Dies gelte aber nur auf dem Papier, schreiben die Verfasser: „Völlige Illusion ist zum Beispiel das Recht auf freie Meinungsäußerung, das durch den Artikel 19 der Schlussakte garantiert wird. Mehreren Zehntausend unserer Bürger wird es unmöglich gemacht, in ihrem Fach zu arbeiten, nur weil sie andere Ansichten vertreten als die offiziellen.“

Detailliert wird im Folgenden aufgelistet, wie die kommunistische Tschechoslowakei gegen die Menschenrechte verstößt. Obwohl sich die Bürgerrechtler in ihren Formulierungen bewusst zurückgehalten hatten, reagierte die Staatsführung mit Diskriminierungen und harter Repression. Sie startete direkte Gegenkampagnen, in denen die Charta-Unterzeichner verleumdet und als Landesverräter dargestellt wurden. Bereits Mitte Januar wurden die drei führenden Organisatoren der Charta 77, Václav Havel, Ludvik Vaculik und Pavel Landovsky, erneut verhaftet. Andere wurden Tag für Tag, über Wochen hinweg verhört. Ein Sprecher der Charta, der Philosoph Jan Patočka, starb am 13. März 1977 nach einem elfstündigen Verhör durch den Staatssicherheitsdienst. Später musste Vaclav Havel sogar für vier Jahre ins Gefängnis.

Die Schikanen gegen die Chartisten waren vielfältig und reichten von Einschüchterungen durch anonyme Drohbriefe, über Verhöre, bis zum Einziehen von Ausweisen, Wohnungskündigungen, Entlassungen, Nichtzulassung der Kinder zur Hochschule u.ä. Der Schriftsteller Pavel Kohout durfte nach der Verleihung des österreichischen Staatspreises für Literatur nicht mehr in die Tschechoslowakei zurückkehren. Viele der Chartisten wurden direkt oder indirekt zur Emigration gezwungen. Insgesamt verließen rund 300 Unterzeichner die Tschechoslowakei.

Im Ausland, unter Dissidenten und Sympathisanten gab es schnelle Reaktionen auf die Veröffentlichung der ersten Charta-Petition. Am 17. Januar wurde in Paris ein internationaler Ausschuss zur Unterstützung der Charta gegründet, in dem unter anderem Heinrich Böll, Friedrich Dürrenmatt, Arthur Miller und Graham Greene Mitglieder waren.

In der Tschechoslowakei machten paradoxerweise gerade die staatlichen Gegen-Kampagnen in Presse und Fernsehen die Charta im ganzen Land bekannt. Jedes Jahr wurden drei Unterzeichner der Charta zu Sprechern gewählt, die die Charta nach außen repräsentierten.

Unterschrift Vaclav Havels unter der Charta 77

 

Die Charta 77 unterschrieben am Anfang 242 Menschen. Bereits im Sommer 1977 war die Zahl der Unterzeichner auf 600 angewachsen. Insgesamt wurden es bis zum Ende des Kommunismus rund 2000. Auf diese Weise wurde die Charta 77 wurde zur Plattform für die Menschenrechtsbewegung in der Tschechoslowakei. Vaclav Havel erklärt, was die Menschen aus ganz verschiedenen Richtungen in der Charta zusammengebracht hat: "Das waren wahrscheinlich einerseits die gemeinsame Bedrohung, die gemeinsame Gegnerschaft und die gemeinsamen Sorgen. Andererseits ist die Charta hauptsächlich auf den Prinzipien der Humanität, der Solidarität und der Zusammenarbeit gegründet. Das war der Boden, auf dem sich Menschen mit ganz verschiedenen Meinungen treffen konnten", so Havel.

1978 begann eine unabhängige Gruppe von Unterzeichnern mit der Herausgabe der Zeitschrift Informationen über die Charta 77. Bis 1989 veröffentlichte die Charta 77 insgesamt 572 Dokumente über Menschenrechtsverstöße, über die Situation der Kirchen in der ČSSR, über Themen wie Frieden, Umweltschutz, Philosophie und Geschichtsschreibung. Auch zum in der Tschechoslowakei oftmals komplizierten Verhältnis zu Deutschland gab die Charta Erklärungen ab.

Das kommunistische Regime tritt 1989 nach wochenlangen  Demonstrationen und Verhandlungen ab. Aus den Netzwerken, die die Charta bildeten, entstand 1989 das "Bürgerforum" und aus ihm sind die Keimzellen vieler demokratischer Parteien hervorgegangen. Etliche der Erstunterzeichner der Charta 77 übernehmen selbst politische Ämter: Wohl prominentester Charta-Unterzeichner ist Václav Havel, der 1989 Präsident der Tschechoslowakei wird.

Drei Jahr nach dem Ende des Kommunismus sahen die Chartisten keine Notwendigkeit mehr, weiter zu existieren und im Herbst 1992 gaben die letzten Charta-Sprecher ihre Auflösung dieser Bürgerrechtsbewegung bekannt.

 

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