Frühjahrsseminar 2017 - Teil 1

Veröffentlicht am 27.04.2017 in

Foto: Siegfried Träger

Die Seminargruppe 2017 vor dem ehemaligen Arbeiterheim in Altrohlau/Stará Role

 

Exkursion nach Altrohlau/Stará Role

„Mein Städtchen, es trug das Kleid der Arbeit und war doch schön; es war die Heimat.“

 

Das Frühjahrsseminar 2017 der Seliger-Geminde in Bad Alexandersbad, das seit Jahren unter dem Motto „Nachbar Tschechien – Zukunft mit Tschechien“ steht, befasste sich im wesentlichen mit der Arbeiterbewegung und damit der sudetendeutschen Sozialdemokratie in der Porzellanstadt Altrohlau, wohin die Teilnehmer auch die Samstagsexkursion führte. Neben den Orten der Porzellanherstellung besuchte die Gruppe weitere historische Orte, wie das Arbeiterheim, die Bürgerschule, den ATUS-Sportplatz sowie das ehemalige Areal des Konsum- und Sparverein VORWÄRTS.

Altrohlau/ Stará Role wurde 1422 erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahr 1814 wurde in Altrohlau eine Manufaktur errichtet, die zunächst Steingut produzierte. In den folgenden zwei Jahrzehnten wurde die Produktion immer weiter erweitert, ab 1836 wurde mit der Produktion von Porzellan begonnen. Die Fabrikation zählt damit zu den ältesten Porzellanmanufakturen der Gegend. Schon 1926 erhielt Altrohlau im Bezirk Karlsbad an der Eisenbahnlinie Karlsbad —Johanngeorgenstadt das Stadtrecht. Die Rohlau/Rolava musste auf ihrem Lauf durch die Stadt bis zur Einmündung in die Eger/Ohre zahlreiche Fabrikabflüsse - teils mit Kaolinschlamm - aufnehmen und war entsprechend verschmutzt. Seit 1976 ist Altrohlau/ Stará Role ein Ortsteil von Karlsbad/Karlovy Vary.

 

 

 

 

 

 

 

Porzellanfabrik in Altrohlau/Stará Role

 

Altrohlau und das Porzellan – gestern und heute

Schon Goethe soll bei einem Kurbesuch in Karlsbad im Jahre 1823 eine Porzellanfabrik in Altrohlau besucht haben. So war es auch ein absolutes Muss, dass das Thema der Stadtführung durch Altrohlau mit Pavel Andrs der Porzellanherstellung gewidmet war. Die günstigen Funde von Braunkohle und weißem Lehm, dem Kaolin, bei Zettlitz und anderen Orten im Egerland führten zu ersten und später erfolgreichen Herstellung von Porzellan. Nach der Chronik aber hatte sich Altrohlau „zur größten Porzellanstadt der Welt" entwickelt, auch wenn das „Karlsbader Porzellan“ lange Zeit im Schatten des oberfränkischen Kunstporzellan von Rosenthal und Hutschenreuther stand. Die Besucher erfuhren, dass in Altrohlau in fünf großen Fabriken und weiteren kleinen Betrieben (Farben-Erzeugung, Porzellanmalerei, Kaolinschlämmerei, Holzbearbeitung, Filzschuherzeugung, Sägewerke, Tongrube, Sandgrube, Steinbruch, Elektrizitätswerk) rund 5.000 Personen beschäftigt gewesen sind. Die „Viktoria“ war mit 1.600 die größte Fabrik; ihr folgte die heute noch existierende Zdekauer mit damals 1.200 Arbeitern und einige kleinere Betriebe.

So war dieser Ort in der Branche zum westböhmischen Industriemittelpunkt für ein großes Einzugsgebiet und einer Arbeiterstadt geworden.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die einzige noch in Altrohlau existierende Porzelanfabrik: Moritz Zdekauer

 

Böhmisches Porzellan von MZ-Moritz Zdekauer

Die älteste Porzellan-Fabrik in Altrohlau wurde in Oktober des Jahres 1810 von Benedikt Haßlacher als Manufaktur für Steingutproduktion gegründet. Im Jahre 1824 hat die Fabrik der Prager Geschäftsmann Augustin Nowotný erworben und die Produktion so erweiterte, dass er bald 100 Angestellte beschäftigte und die Produktion über die Lager in Prag, Wien und (Buda)Pest verkaufte. Nowotný konnte in der Zeit richtig abschätzen, dass die Prosperität nicht im Steingut zu sehen ist, und es begann im Jahre 1836 die Altrohlauer Fabrik mit der Porzellanproduktion.

Emanuel Nowotný baute die Fabrik weiter aus, so dass sie im Jahre 1870 800 Angestellte beschäftigte. In den 80. Jahren des 19. Jahrhunderts fiel die Porzellanfabrik der Krise zum Opfer und 1884 kaufte sie in einer Auktion das Bankhaus von Moritz Zdekauer aus Prag. Dem ist es gelungen unter dem Warenzeichen „MZ“ - Adler mit ausgebreiteten schwingen und Krone sowie den Initialen „MZ“ - die Exportfähigkeiten der Porzellanfabrik zu erneuern und die Ware nach Nord- und Südamerika, auf den Holländischen Markt und in die Holländischen Kolonien zu exportieren. 

Im Jahre 1909 hat die Fabrik der deutsche Porzellankonzern C. M. Hutschenreuter übernommen. Der deutsche Konzern hat schlau ausgenutzt, dass das Warenzeichen „MZ“ schon am Markt bekannt war und so wurde auch in den Folgejahren die Kontinuität eingehalten. Das Zeichen Adler mit Krone und der Initiale MZ wird heute noch verwendet. Nach dem Ende des II. Weltkriegs im Oktober 1945 wurde die Porzellanfabrik verstaatlicht. Danach wurde einige Male reorganisiert und 1958 wurde sie in den Staatsbetrieb Karlovarský porcelán (Karlsbader Porzellan) eingegliedert. Im November 1992 wurde die Porzellanfabrik privatisiert und es ist die heutige Aktiengesellschaft Starorolský porcelán Moritz Zdekauer, a. s. entstanden. Zurzeit konzentriert sich die Aktiengesellschaft auf die Produktion von Gebrauchporzellan für den Haushalt, Porzellan für Hotels und Restaurants und auf Zierporzellan, von deren Qualität sich die Seminargruppe im Werksverkauf überzeugen konnten.

Die Industriemetropole hatte eine starke Arbeiterbewegung, deren Stolz das große Arbeiterheim gewesen ist. Hier spielte sich das kulturelle Leben -  außer Tanzveranstaltungen in anderen Gaststätten - ab.

 

 

Arbeiterheim in Altrohlau

 

Arbeiterheim und Bürgerschule

„Es waren nur wenige Schritte, die ich von unserer Wohnung in der Bürgerschule in das Arbeiterheim hatte und das war gut für mich und für meine Eltern. Durch den Hinterhof, vorbei am Kindergarten, lief ich durch das kleine Tor über die Gasse bis zur nächsten und schon stand ich vor dem ´Heim´“, so Olga Sippl in Ihren Erinnerungen an die Jugend in Altrohlau. Und nun standen wir auch hier vor dem genannten Arbeiterheim, dem heutigen „Lidovy dum".

Der 42 Meter lange imposante Bau ist auch heute noch beeindruckend. Kernstück ist der „große Saal" mit einer Rundgalerie, der bei Tischen 900 Gäste aufnehmen konnte. Die Bühne des Saales die schon damals für die Aufführungen der Theatersektion „Bühnenfreunde" genutzt wurde, ist heute auch noch da, nur viel moderner. Die Chöre stellten damals die Arbeitersänger, das Ballett der ATUS. Auch für Kongresse und Tagungen von Partei und Organisationen des Kreises war der Saal angefragt. Heute ist das ehemalige Arbeiterheim im Besitz der Kommune und wird wieder vielfältig genutzt.

Damals spielte sich das gesamte kulturelle Leben in den Vereinen und im Sport ab, wobei natürlich auch das geringe Einkommen der Industriebevölkerung eine Rolle spielte. Wegen der niedrigen Beiträge beruhte die gesamte Organisation auf ehrenamtlicher Arbeit. Die Begriffe Gemeinschaft und Freundschaft waren keine leeren Worte. Die engen Wohnverhältnisse taten ein Übriges. Familien mit bis zu zehn Kindern hausten in zwei kleinen Räumen in einer Mietskaserne gegenüber den qualmenden Fabrikschloten. Es blieb nur die Flucht ins Wirtshaus, einen Verein oder den Sportplatz - und das meist nur für die Männer, denn die Frauen mussten trotz aller Primitivität die Familie versorgen und versuchen, aus den Kindern anständige Menschen zu machen. Dass sich trotzdem eine Frauenbewegung in der Arbeiterschaft entwickelte, ist bewundernswert.

Kinderfreunde, Falken und SJ unterstützten die Eltern in dem sie sich um die Kinder sorgten und eine Erziehung im Sinne der Arbeiterbewegung boten. Solidarität und Zusammenhalt zwischen den Arbeitern machte das Leben erträglich.

Das Arbeiterheim war durch die vielen Vereine immer gut besucht, denn jeden Tag war etwas los: Singstunden, Theaterproben, Vorträge, Lesungen und es gab auch einen Schach-Klub. Durch das Vereinsleben lernten die Menschen, wie sehr sie in ihrem Dasein auch auf den anderen angewiesen sind. Sie lebten in Gemeinschaft. Nicht von ungefähr ist der sozialdemokratische Gruß „Freundschaft".

Der „Arbeiterturn- und Sportverein" und der „Deutsche Turnerbund" (Turnverein sagen wir) nutzten für ihre Gruppenstunden den großen Turnsaal in der Bürgerschule, die heute eine moderne Grundschule mit beeindruckendem kunsterzieherischen Niveau ist, wie sich die Besucher überzeugen konnten. Sportler und arbeitslose Jugendliche hatten in Eigenleistung am Walter-Teich schließlich aus einer Halde der, ehemaligen Ziegelei den schönen ATUS-Sportplatz geschaffen.

Die Bürgerschule

 

 

Die Bürgerschule wurde etwa um 1910 errichtet. In ihr waren bis zu 24 Klassen untergebracht. Dazu kam im 2.Stock ein großer Zeichensaal, ein doppelgeschossiger Turnsaal, Lehrer-, Konferenz- und Lehrmittelzimmer. Eine Lehr-Kochküche und der Kindergarten waren angeschlossen. Auch das städtische Volksbad befand sich im Kellergeschoß der Schule. Zeichen-und Turnsaal wurden in den Abendstunden von der Kommune und von Vereinen genützt. Ein großer Turnplatz und Lehrgärten vor der Schule ergänzten das reichhaltige Angebot dieser von einem großen Einzugsgebiet genützten Bildungsstätte.

 

Der Konsum- und Sparverein VORWÄRTS

Im Juni 1900 wurde in Karlsbad die Genossenschaftsbewegung und im Oktober in Altrohlau die erste Verkaufsstelle eröffnet. Im Dezember 1914 wurde die Bäckerei auf der Londoner Höhe in Betrieb gesetzt. Schon nach 20 Jahren hatte die Genossenschaft einen Mitgliederstand von 8834 zu verzeichnen. Altrohlau (Karlsbad III) war im Geschäftsjahr 21/22 zum größten deutschen Konsumverein in der CSR emporgestiegen. Neben der Großbäckerei gab es noch eine Bierabfüllung und Limofladenerzeugung in Altrohlau. 1935 hatte die Genossenschaft 12.252 Mitglieder. Welche Bedeutung der Konsum für das Industriegebiet hatte, zeigte sich besonders in der, in den zwanziger Jahren einsetzende Weltwirtschaftskrise. Der Zusammenbruch der deutschen Sparkassen in Prag ließ aus der anfänglichen Absatzkrise bald einen Katastrophe werden, als schließlich fast 2.000 Menschen arbeitslos geworden waren. Auch wenn im  Jahre 1926 in der Tschechischen Republik die staatliche Sozialversicherung eingeführt worden war, hatte sie keine Auswirkung auf die Versorgung der Arbeitslosen, deren Einkommen unter dem Existenzminimum lag. Der Konsum- und Sparverein VORWÄRTS milderte die allzu große Not.

Lebensbilder Altrohlauer Sozialdemokraten

Bereits am Vorabend der Exkursion hatte der Historiker Thomas Oellermann Lebensbilder Altrohlauer Sozialdemokraten präsentiert. Er erinnerte u.a. an Namen wie August Pecher (1923-27) und Josef Möser (1927-38), beide Sozialdemokraten in Altrohlau. 1933 kamen sozialdemokratische Emigranten aus dem Deutschen Reich, 1934 dann die österreichische Emigranten, denen eine große Solidarität entgegengebracht wurde.

Die Stadt Altrohlau/Stará Role hatte 1938 6.683 Einwohner, davon waren 6.486 deutsch. Für die wenigen Tschechen: Postmeister und Gendarmerie und einige gemischte Familien, gab es eine zweiklassige tschechische Volksschule. Die Besitzer der drei jüdischen Textilhäusern - Fuchs, Eihart und Fauska - hatten bis 1938 nie Probleme mit der Bevölkerung.

Doch nicht nur die Juden litten unter der Herrschaft der Nationalsozialisten und der Sudetendeutschen Partei Henleins. So wurde obengenannter Josef Möser als einer der ersten 1938 verhaftet.

In der Dokumentation „Kampf, Widerstand, Verfolgung", die vom Seliger-Archiv Stuttgart zusammengestellt wurde, sind 23 Altrohlauer als KZ-Häftlinge erfasst: Anton Böhm, Adolf und Gustl Dietrich, Toni Ebert, Otto Hüller, Willi lttner, Ludwig Kalfuss, Fred Kaschner, Franz Kohn, Karl Lili, Fredl Mayer, Fred Möschl, Josef Möser, Franz Moudry, Ernst NagI, Toni Paulus, Ernst Schürer, Karl Schwalbe, Edi Stowasser, Oskar Stowasser und Wenzel Stowasser sowie Anton Zebisch. Viele Aktivisten mussten ins Ausland fliehen. Davon betroffen waren Heinrich Böhm, Josef Simon und die Brüder Jakob (Schweden) und Adolf sowie Otto Stowasser mit ihren Familien (England). Wenzel Stowasser, der Onkel Olga Sippls, wurde wegen Schwarzhörens (wahrscheinlich aber Sippenhaft) zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten rund die Hälfte der Altrohlauer Sozialdemokraten das Land verlassen, viele Fachkräfte „durften“ in der Heimat bleiben. Doch schon nach wenigen Jahren drehte sich dieses Privileg ins Gegenteil.

Am 19.11.1946 verließ der letzten Antifa-Transport mit Olga Sippl Karlsbad.

Oellermanns Ausführungen machten deutlich, wie dünn die Quellenlage zur Sudetendeutschen Sozialdemokratie ist und wie weitverstreut die Nachweise für sozialdemokratische Sudetendeutsche sind. Es ist dringend geboten die Historie der Sudetendeutschen Sozialdemokratie einer wissenschaftlichen Erforschung und Dokumentation zuzuführen.

Kirche Christi Himmelfahrt prägt noch heute das Zentrum Altrohlau/Stará Role

 

Ein Gedicht Olga Sippls beschreibt ihre Leben in Altrohlau und wirft ein Licht auf die Arbeiterbewegung, die Wurzel der Sozialdemokratie:

Ein stilles Tal, wie Dichter es erfreute,

das war mein Heimatstädtchen nicht.

Es war belebt und voller Arbeitsleute

mit Sorgenfalten im Gesicht.

 

Am frühen Morgen hasteten die Massen

durch die Fabriktore fürs täglich Brot.

Ruß und Staub drang in die Gassen,

Feuerqualm entwich aus jedem Schlot.

 

Erfindergeist und die Schätze der Erde

schufen einst das edle Porzellan.

Was später die ganze Welt begehrte,

das haben Arbeiterhände getan.

 

Still war es nie in meinem Heimatstädtchen.

Man suchte Freude, strebte nach Kultur.

Singen und tanzen wollten Buben und Mädchen

und erwandern die freie Natur!

 

In vielen Vereinen pulste das Leben

Gemeinsam fühlte man die Kraft,

dem Arbeitsmenschen die Würde zu geben,

die gleiches Recht für alle schafft.

 

Mein Städtchen, es trug das Kleid der Arbeit

und war doch schön; es war die Heimat.

Erinnerungen überdauern die Zeit

und verklären Dinge, die man nicht mehr hat.

 

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