Herbstseminar 2023 mit Bundesversammlung

Veröffentlicht am 28.10.2023 in Allgemein

Stellte seinen Beitrag unter das Motto „Als Kafka hustete...“ – Dr. Filip Bláha

 

Als Kafka hustete ....

Pandemie war früher – die Spanische Grippe* in der Tschechoslowakei

Moderator Thomas Oelelrmann stellte den Historiker Dr. Filip Bláha, geb. 1978 in Jihlava vor. Bláha studierte Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karlsuniversität Prag und an der TU Dresden und promovierte 2011. Von 2006 bis 2011 war Bláha Mitarbeiter am Dresdner Hygienemuseum und am Landesamt für Archäologie in Dresden. Zuletzt arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Centre for Higher Education Studies (CHES) in Prag.

„Im September 1918 verbreitete sich in Europa die Grippeepidemie. Es war die sog. ‚Spanische Grippe‘, weil sie von Übersee über Spanien zu uns kam. [...] Die Krankheit verbreitete sich unheimlich schnell und viele Leute starben an ihr, nicht nur alt, sondern auch jung. Auch einige Kollegen aus meinem Jahrgang. Ich infizierte mich gleich Anfang September. Es war am Sonntag, ich wollte mit den Freunden nach Senohraby Fahrrad fahren. Ich wachte auf und fühlte mich seltsam, trotzdem zog ich mich an und machte mich bereit. Dann maß ich mir die Temperatur; ich hatte 39 ̊C. Das Fieber dauerte etwa eine Woche, ich fühlte mich sehr mies. [...] Ich hatte schwere Kopfschmerzen, trotzdem versuchte ich, Innere Medizin zu lernen. Es ging mir schlecht. Ich wusste nicht, dass ich an der ‚Spanischen Grippe‘ erkrankt war, die Nachrichten über sie erschienen erst später. Als das Fieber verschwand, fühlte ich mich ausgezehrt, was mir nur in bestimmten Situationen bewusst wurde“. Mit diesem zeitgemäßen Bericht des Medizinstudenten Vladimír Vondráček (1895–1920, der spätere Begründer der tschechoslowakischen medizinischen Psychologie wurde, eröffnete Dr. Filip Bláha seinen Vortrag.

Berichte wie dieses, so Bláha, gab es viele. Den Autoren war zwar bewusst, dass sie eine Epidemie miterlebten, doch eine individuelle und gesellschaftliche Bedeutung erlangte sie nicht. Zuviel ereignete sich zu dieser Zeit: Krieg, Lebensmittelmangel, Hungersnot, Zerfall Österreich-Ungarns, Gründung der Tschechoslowakei, … Die Pandemie wurde regelrecht unter den zahlreichen Krisen der damaligen Zeit „begraben“.

Die Epidemie der Spanischen Grippe erreichte Mitteleuropa im Frühjahr 1918 und sie war tödlicher als CORONA! Die Menschen, aber vor allem die Regierungen, wurden vor Herausforderungen gestellt, die für sie neu und beispiellos waren. Die österreichisch-ungarische Gesellschaft befand sich zu dieser Zeit zwar in einem fortgeschrittenen Modernisierungsgrad und konnte auf sehr gut aufgebaute sowie technisch versierte Transport- und Kommunikationsnetze zurückgreifen.  Vor allem Prag stellte auch im Bereich der modernen medizinisch-hygienischen Maßnahmen ein Vorbild dar. Um die Jahrhundertwende wurden in Prag Maßnahmen getroffen, die die Stadthygiene auf ein neues Niveau hoben – etwa die Sanierung des ehemaligen jüdischen Ghettos zu einem modernen Wohnviertel, der Bau eines Schlachthofes, von Markthallen in einzelnen Vierteln und vor allem der Kläranlage, die auf die Minderung der Typhusverbreitung zielte. Typhus  wurde allerdings nicht als tödliche Infektionskrankheit wahrgenommen: „Durch die Wasserleitung floss das Moldauwasser. Die Leute waren unbelehrbar und tranken es, sie wuschen damit Obst und Gemüse – solange sie es überhaupt taten –, sie gossen es in die Milch hinein usw. [...] Typhus wurde nicht als eine echte Infektionskrankheit wahrgenommen. Die an Typhus Erkrankten lagen im Krankenhaus, noch zu meinen jungen Ärztejahren, unter den anderen Kranken“ so ein zeitgenössischer Bericht.

Nach der letzten Pockenepidemie 1872/73 verschärften sich staatliche Eingriffe beim Auftreten von Infektionskrankheiten. Der österreichische Staat schenkte nun gefährlichen Krankheiten wie den Pocken, Scharlach, Keuchhusten oder Diphtherie und ihrer Bekämpfung immer mehr Aufmerksamkeit. Ein großer Schritt war die Einführung einer Pflichtimpfung gegen Pocken für alle Schulkinder und die Herstellung des Impfstoffes unter Staatsaufsicht, um eine gleichbleibende Qualität des Impfstoffes zu garantieren. Darüber hinaus beflügelte auch die neue, auf österreichische Kronländer bezogene Gesetzgebung mit dem Reichssanitätsgesetz von 1870 und dem Seuchenschutzgesetz von 1913 die Bekämpfung der Infektionskrankheiten, führte Bláha weiter aus.

Gleichzeitig wurde nach und nach die Gesundheitsfürsorge der Staatsverwaltung unterstellt und es entstanden neue medizinische Amtsstellen als Ergänzung zu politischen Organen, die über den Gesundheitszustand der Bevölkerung wachen sollten. In Prag übernahm die Stelle des Stadtarztes (Stadtphysikus) diese Aufgabe. Seit 1913 bestand zudem eine Anzeigepflicht für bekannte Infektionskrankheiten und das Gesetz sah u. a. Krankenisolation, Veranstaltungsverbote oder Gewerbeschließungen im Falle des Auftretens vor. Die verbesserte ärztliche Fürsorge führte zu einem starken Rückgang der Zahl der an Infektionskrankheiten Verstorbenen bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs: von 36 Prozent (1873) auf 20 Prozent (1913) der gesamten Todesursachen. Mit Ausnahme der Tuberkulose konnte die Verbreitung von Infektionskrankheiten erheblich reduziert werden, wobei z. B. Scharlach als Todesursache fast komplett ausgerottet wurde. Die Tuberkulose blieb für die Bevölkerung jedoch weiterhin eine ernste Gefahr und Ursache für jeden fünften Todesfall in Böhmen. Prag und die Industriebezirke Nordwestböhmens zählten zu den Regionen mit der höchsten Tuberkulose-Sterberate.

Dann kam der Erste Weltkrieg, der die gesundheitliche Fürsorge schwächte. Dies wurde noch durch den Lebensmittelmangel verstärkt. Deutlich zeigt sich das, so Bláha, am Beispiel der Pockenepidemie, die zwischen Juli und September 1918 in Böhmen in mehreren Bezirken und Gemeinden, vor allem im Nordwesten, grassierte. Diesbezüglich beklagten die Behörden nicht nur den Ärztemangel, sondern auch den wachsenden Widerstand der örtlichen Bevölkerung, die sich immer hartnäckiger gegen die angeordneten Schutzmaßnahmen wie die Notimpfung oder Verkehrsbeschränkungen wehrte. Dem Bericht der böhmischen Statthalterei zufolge betrachtete die Bevölkerung einen möglichen Tod durch eine Infektionskrankheit im Vergleich zum fast sicheren Hungertod als das kleinere Übel, so Bláha weiter

Der Krieg stellte den gesundheitlichen Diskurs auf den Kopf. Die bisher klaren Grenzen, wer gesund und wer krank sei, wurden durch die maschinelle Kriegsführung, zahlreiche Infektionskrankheiten und die Hungersnot verwischt und verschärft. Die Neuerungen in der medizinischen Fürsorge in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten zu einer stärkeren Disziplinierung der Volksmassen durch die moderne Medizin. Darüber, wer krank oder gesund sei, entschied künftig der Staat in der Person eines Amtsarztes, der seine Entscheidung wissenschaftlich begründen konnte.

Der menschliche Körper wurde der modernen Physiologie entsprechend zu einer Maschine, die durch klar definierte Rationen in Gang gehalten werden sollte. Diese wissenschaftliche Anschauung wurde im Krieg zur Obsession: Wieviel Nahrung braucht der Körper, um seine Arbeitskraft zu sichern und ihn im Kampf wirkungsvoll einzusetzen? Der technisierten Wahrnehmung des menschlichen Körpers als einer Maschine, die man in einzelne Teile zerlegen kann, bediente sich auch Jaroslav Hašek in seinem humoristischen Roman „Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk im Weltkrieg“. Selbstverständlich führte er diese Vorstellung – wie für ihn typisch – ad absurdum.

Bláha: In Anbetracht der Pockenproteste im Nordwesten Böhmens sowie der kriegsbedingten Körperverstümmelungen zeigt sich, dass die Sensibilität der Bevölkerung, die gesundheitlichen Bedrohungen als ernst wahrzunehmen, im Herbst 1918 stark abnahm. Im Falle der Spanischen Grippe zeigte sich dies deutlich – vor allem, als die tschechoslowakische Staatsgründung am 28. Oktober 1918 die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog.

Im Herbst 1918 wurde im öffentlichen Raum nicht mehr darum gerungen, in welcher Staatsform Österreich-Ungarn weiter bestehe. Vielmehr ging es nur noch darum, ob die Auflösung friedlich oder blutig erfolge. Im Oktober, als die Welle der Spanischen Grippe kulminierte, reihten sich in Böhmen die Ereignisse aneinander, die in den politischen Umsturz am 28. Oktober 1918 mündeten. In dieser Atmosphäre schilderte am 17. Oktober 1918 der Prager Stadtphysikus, Dr. Ladislav Procházka, in einer Stadtratssitzung die epidemiologische Situation in der Stadt. In seinem Bericht stellte er die Krankheit als Influenza bzw. Grippe kurz vor und verwies dann auf die Befunde des Pathologischen Institutes der tschechischen Karl-Ferdinands-Universität, die eine Pestinfektion ausschlossen. Für die Pestvermutung, die die Medien gleich aufgriffen, sorgte die dunkle Gesichtsverfärbung der Toten, die durch die Atemnot der Sterbenden entstand. Bei den Obduktionen wurden keine Pestbeulen festgestellt. In diesem Punkt richtete sich Procházka entschlossen gegen die Medien, die solche Nachrichten verbreiteten und Angst unter der Bevölkerung schürten.

Er selbst betrachtete die Krankheit nüchtern und als in 90 Prozent der Fälle nicht tödlich. Den Rest seines Berichtes widmete er den Maßnahmen, die man zum Schutz der Bevölkerung umsetzen sollte – Schulschließungen bis zum 4. November, das Meiden von Vergnügungsbetrieben oder die Beschränkung der Zahl der Fahrgäste in den Straßenbahnen sowie der Kunden in Lebensmittelgeschäften. Darüber hinaus sprach er sich für eine engere Kooperation mit der Prager Garnison aus, um die sich anhäufenden Leichen bestatten zu können. Zum Ende der Sitzung folgte dann eine Diskussion, bei der die Stadträte die Schlussfolgerungen von Procházkas Bericht besprachen. Doch die Epidemie wurde sehr schnell von anderen Problemen überlagert. Vor allem die Versorgungslücken stellten eine kaum lösbare Herausforderung dar und trieben die Stadtverwaltung an den Rand ihrer Handlungsfähigkeit.

Am 28. Oktober 1918 kam plötzlich die lang ersehnte „Befreiung“ und nicht einmal die Spanische Grippe konnte der Bevölkerung das Fest „vermiesen“. Die triste Realität kehrte aber sehr schnell zurück. Spätestens im Dezember 1918 gab es in Prag Ausschreitungen, die ihren Ursprung aus mehreren Konfliktpotenzialen schöpften. Ausschreitungen mit starken antideutschen sowie antisemitischen Akzenten folgten. In einem anzeigenähnlichen Text aus den „Humoristischen Blätter“ wurde die Epidemie „Palestinka“ genannt. Die Krankheit greife also die in Palästina Geborenen an, die für den Lebensmittelmangel und die hohen Preise verantwortlich seien und so eine baldige gerechte Bestrafung erhielten.

Ungeachtet kleiner Fortschritte verschärfte sich die allgemeine Versorgungssituation in Prag bis zum Herbst 1918 immer weiter. Auch in der Stadtverwaltung war man sich der prekären Situation bewusst und fürchtete eine Ausbreitung von Infektionskrankheiten, denen eine unterernährte Bevölkerung nichts entgegenzusetzen hätte. Zur Lebensmittelknappheit kam ein chronischer Kohlenmangel hinzu, der den Stadtrat bereits im Juli mit Bangen auf die Winterzeit blicken ließ. In diesem Kontext fand im Stadtrat auch die Spanische Grippe erneut Erwähnung: Eine Meldepflicht der Grippeerkrankungen wurde diskutiert – aber abgelehnt.

In den Prager Tageszeitungen fand sich das Thema „Spanische Grippe“ niemals auf der Titelseite. Erst auf Seite drei oder vier, wenn überhaupt, las man aktuelle Meldungen über ihre Verbreitung und Behandlung sowie die neuesten Empfehlungen. Punktuelle Einblicke in die Situation der überfüllten Krankenhäuser und Friedhöfe liefern aber doch Zeitungsartikel.

Aus diesen lückenhaften Angaben war es jedoch schwierig, eine tragfähige Aussage zur Gesamtopferzahl zu treffen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass für die Spanische Grippe seitens der Ärzteschaft keinerlei Meldepflicht bestand, obwohl es sich um eine stark ansteckende Infektionskrankheit handelte. Die Diagnostik war 1918 noch nicht ausgereift genug, um Viren zu identifizieren, die Krankheitsbilder der Spanischen Grippe waren dazu sehr variabel, durch Sekundärinfektionen überlagert und die in den Städten verbliebene Ärzteschaft war schlicht überfordert.

Im Vergleich zu den Kriegsjahren 1915 bis 1917 fällt eine 1918 signifikante Übersterblichkeit an Pneumonie (+ ca. 577) und anderen Atemwegserkrankungen62 (+213) auf. Werden diese Zahlen mit einbezogen, so erhält man für den Grippesommer bis -winter 1918 eine Sterblichkeit von 0,30 Prozent und eine Summe von 1319 zivilen Todesopfern. Dies ist ein ähnlich hohes Niveau wie das, welches die Lungentuberkulose im selben Jahr unter den Einwohnern Prags und seiner größeren Vorstädte erreicht (1 633 Tote). Wie bei CORONA stiegen die Opfer in den Stadtteilen mit schlechten hygienischen Bedingungen und weit verbreiteter Armut. Am glimpflichsten verlief die Pandemie in den schon vor dem Krieg wohlhabenderen Stadtvierteln bzw. Vorstädten.

Wie bei der CORONA-Pandemie mussten zu den eindeutigen Influenzafällen noch die Fälle im Rahmen der Übersterblichkeit dazu gezählt werde, die auf grippebegleitende Komplikationen entfallen. Dabei könnten sich weiterhin viele eigentliche Grippetote noch hinter den Zahlen für Herzkrankheiten, akute Bronchitis, andere Atemwegserkrankungen, Altersschwäche, Suizid oder Sonstigen Krankheiten verstecken. Und noch eine Gemeinsamkeit: Verschwörungstheorien hatten Konjunktur und windige Geschäftsleute priesen vermeintliche Heilmittel an. Anhänger von Zwangsimpfungen bzw. Naturheilverfahren lieferten sich heftige Kämpfe.

Und Franz Kafka?

Der 1918 weitgehend ruhenden Lungentuberkulose von Franz Kafka wurde möglicherweise durch die Spanische Grippe die tödliche Wendung gegeben.

 

 

*Die Spanische Grippe war eine Influenza-Pandemie, die durch einen ungewöhnlich virulenten Abkömmling des Influenzavirus (Subtyp A/H1N1) verursacht wurde und sich zwischen 1918 – gegen Ende des Ersten Weltkriegs – und 1920 in drei Wellen verbreitete und bei einer Weltbevölkerung von etwa 1,8 Milliarden laut WHO zwischen 20 Millionen und 50 Millionen Menschenleben forderte, Schätzungen reichen bis zu 100 Millionen. Damit starben an der Spanischen Grippe mehr Menschen als im Ersten Weltkrieg durch Kriegshandlungen (ca. 17 Millionen Tote). Insgesamt sollen etwa 500 Millionen Menschen infiziert worden sein, was eine Letalität von 5 bis 10 Prozent ergibt, die damit deutlich höher lag als bei Erkrankungen durch andere Influenza-Erreger.

 

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