Weihnachtsgeschichte 2019

Veröffentlicht am 22.12.2019 in

Tausende Flüchtlinge stauen sich auf einer neuen Balkanroute über Albanien und Serbien nach Bosnien und Kroatien. Von hier aus wollen sie über Kroatien nach Slowenien und von dort weiter in westliche EU-Staaten. Jeder kann es sehen, keiner unternimmt etwas. Hilfsorganisationen befürchten, dass der nahende Winter Todesopfer fordern wird. ….

 

 

Weihnachten 2019

 

Die Nacht war undurchdringlich und stürmisch. Der Wind zerrte an den Bäumen und riss an ihnen, dass sie aufstöhnten, und manchmal schrie es irgendwo erbärmlich wie ein misshandeltes Kind. Die drei Menschen, der Mann, die Frau und das Kind, hockten am Waldrand hinter einem Gebüsch. Ihre Herzen klopften, dass sie fürchteten, man müsse es hören. In fiebernder Angst sahen sie hinüber, wo drüben hinter ein paar Hügeln die fernen Lichter leuchteten.

 

Ihre angespannten Sinne lauschten in die lauernde Dunkelheit. War da etwas? Näherten sich Menschen? Waren die Häscher unterwegs? Die überreizten Nerven fürchteten hinter jedem Laut die drohende Gefahr. Sie hatten Mühe, das Schlagen ihrer Zähne zu unterdrücken; die Kälte und das Ungewisse ihres Schicksals schüttelte ihre in äußerster Erschöpfung erschlafften Körper. Die winkenden Lichter aber dort drüben über der Grenze, die Ahnung erlösender Freiheit, ließ sie hellwach sein.

 

Manchmal zuckte der Gedanke in ihnen auf, wie es denn weitergehen sollte. Hastig hatten sie unterwegs darüber ein paar Sätze gewechselt. Aber wussten sie es selbst? War es auch wesentlich? Sie wussten nur, dass dort hinten, in ihrem Rücken, das Verhängnis lauerte, dass sie vor ihm auf der Flucht waren und nur die Hoffnung hatten, dass dort über der Grenze die Freiheit war. War das nicht genug?

 

Jetzt, es war keine Täuschung, dumpfe Tritte von schweren Stiefeln. Der Mann biss sich in verhaltener Erregung in die Lippen, die Frau verkrampfte ihre Hände und presste das schlafende Kind enger an sich. Es waren weite, langsame Schritte, aber ihnen schien, als dröhne der ganze Wald von ihnen. Nun war es vor ihnen. Sie hörten ein Gewehr klappern, das trockene Husten eines Mannes — dann war es vorbei. Dumpf und gleichförmig verebbte das Geräusch in der dunklen Nacht. Die Spannung ihrer Körper ließ nach, sie wagten miteinander zu flüstern. Dann erhoben sie sich und schlichen auf das freie Feld hinaus.

 

Der Wind knatterte in ihren Kleidern und riss den Atem von ihren Mündern. Sie spürten ihre Müdigkeit, die sie zu überwältigen drohte — aber sie liefen. Ihre Lungen keuchten schmerzhaft, sie stießen an Steine und verborgene Hindernisse. Sie liefen, die Wegweiser der friedlichen Lichter im Auge. Dann war der Bach da, mit dem schmalen, schwankenden Steg, von dem sie wussten, dass er bereits auf der „anderen" Seite lag. Zitternd und mit verschwitzten Gesichtern sahen sie sich um. „Gerettet!" jubelten ihre Herzen, noch einmal rieselte das Grauen wie eine ferne Erinnerung über ihre Rücken.

 

Nur wenige hundert Meter weiter duckten sich die ersten Häuser gegen den Hang. Hell strahlten die Fenster, festliches Gläserklirren drang auf die Straße, und manchmal waren helle Kinderstimmen dazwischen. Der Mann und die Frau suchten einander mit den Augen, und als es ihnen nicht gelang, fassten sie sich an den, Händen. „Es ist ja Weihnachten! Wir haben es nur vergessen!" Und in ihrer Not und mit dem ersten zaghaften Mut, der in ihnen aufglomm, klopften sie an die erste Tür.

 

Man öffnete ihnen. Abschätzende Blicke ruhten auf ihren demütigen Gestalten, gutgelaunte Gesichter wurden verschlossen und abweisend. Fremde Menschen in dieser Nacht, Bettler gar . . .? Man reichte ihnen eine Kleinigkeit aus der eigenen Fülle und zuckte bedauernd mit den Schultern. Dann schloss sich die Tür, es war wieder dunkel, und die Ahnung von Wärme und Geborgenheit war verflogen wie ein kurzer Traum. Und wieder pfiff der Wind durch ihre dürftige Kleidung.

 

So versuchten sie es ein zweites und ein drittes Mal. Aber es geschah überall das gleiche. Der bittende Mund schloss sich wieder, wenn er die fremden Augen sah, in denen für einen Augenblick warmes Mitleid aufleuchtete, die sich aber gleich darauf misstrauisch verschlossen. Die Kälte der Ablehnung stieß sie wieder zurück in die schutzlose Nacht.

 

Nachdem sie lange und müde umhergeirrt waren, tappten sie durch eine offenstehende Pforte und fanden am Rande eines Gartens eine verlassene Gartenlaube. Der Mann trat durch die unverschlossene Tür, ein Streichholz flammte auf, und sie fanden sich zwischen Gartenstühlen, abgestelltem Gerümpel, Staub und Spinnweben. Ein Windstoß schlug hinter ihnen die Tür zu und löschte das Licht, und ehe noch der Mann ein zweites Zündholz anstreichen konnte, begann das Kind zu weinen.

 

Nach einer Weile, als sie sich mühsam zurechtgefunden und ihre zerschundenen Körper in die breiten Korbstühle hatten sinken lassen, fanden sie zwischen allerlei Gerät eine Stalllaterne. Sie stand nun da auf einem kleinen wackligen Tischchen, ihr Schein ging nicht weiter, als dass man die Gesichter der drei Menschen erkennen konnte. Der Wind fauchte um die Hütte. Aber sie waren dem Schicksal dankbar, das sie die Geborgenheit dieses Schlupfwinkels hatte finden lassen.

 

Das Kind hatte sich beruhigt und knabberte an einem Stück Kuchen. Der Mann und die Frau sahen einander über das blakende Licht hinweg in die Augen. Sie nickten sich zu. Trotz allem war in ihnen so etwas wie Hoffnung und ein winziges Fünkchen von Helligkeit und Zuversicht. Nicht, dass es aufflammte vor überschäumender Lebensfreude, aber es war doch so groß, dass nach einer Weile, als das Kind wieder eingeschlafen war, der Mann ein Weihnachtslied vor sich hin zu summen begann. Er tat es zuerst ganz ohne Absicht, erst später kam es ihm zum Bewusstsein. Er sah die Frau an und entdeckte in ihrem Gesicht ein kleines, winziges Lächeln. Und auch sie summte nun mit, und es klang wie ein uraltes Wiegenlied. Dann verstummten sie erschreckt, denn draußen hörte man Schritte näherkommen. Die Tür öffnete sich, und im ungewissen Licht der Lampe stand ein alter Mann.

 

Sie starrten ihn an, fragend und unsicher. Der Alte stand im Türrahmen, unbeweglich, und blickte sie lange an. Aber ehe sie sich fassten und ein Wort der Erklärung fanden, hörten sie seine dunkle Stimme: „Es ist kalt hier; kommen Sie mit mir!" Er wandte sich um und ging, ohne sich um ihre fragenden Gesichter zu kümmern, langsam in die Nacht voraus. Sie hatten Mühe, ihm zu folgen. Es musste ein weitläufiger Garten sein, durch den er sie führte. Dann standen sie vor einem Haus mit lichtlosen Fenstern. Der Alte ging schweigend die Stufen hinauf, öffnete eine Haustür, und erst jetzt brach er die Stille: „Seien Sie willkommen in meinem Haus!"

 

Sie traten in einen dunklen Vorraum, stiegen eine dunkle Treppe empor, ein großes Zimmer nahm sie auf. In der Mitte stand ein gedeckter Tisch, an dem der Alte gesessen haben mochte, ein kleiner schmuckloser Tannenbaum stand im Hintergrund. Drei Lichter waren an ihm angesteckt und tauchten den Baum in geheimnisvollen Dämmer. Aus einem Winkel leuchteten die Glimmerplättchen eines Ofens. Es war herrlich wann, und sie, die staunend kaum zu atmen wagten, fühlten, wie die Wärme in ihren durchfrorenen Körpern aufstieg.

 

Schweigend schob ihnen der Alte Stühle an den Ofen, sie versanken in weichen Polstern. „Ich hatte das Licht in meinem Gartenhaus gesehen", sagte der Alte. „Sie sind fremd hier?« Als sie von ihrem Herkommen erzählten und von ihrer Flucht, nickte er nur, stand eine Weile wie überlegend und verschwand dann. Bald darauf kam er mit einer Frau wieder, die sich am Tisch zu schaffen machte. „Und nun sollen Sie essen, kommen Sie!” Als sie zulangten und dabei erst die Größe ihres Hungers merkten, waren sie wieder versucht, an ein Märchen zu glauben. Aber das Essen war echt und der Wein, der den Magen wärmte, und der Alte, dessen Gesicht, halb vom Schatten verdeckt, ihnen aufmunternd zugewandt war.

 

Nachher saßen sie wieder um den Ofen, sie hielten schützend ihre Hände um die Gläser, in denen der rote Wein leuchtete, am Baum brannten knisternd die drei Lichter. Der Alte hielt einen vergilbten Brief zwischen den Händen. Er war es auch, der als erster das Schweigen brach, indem er auf den Brief deutete. „Meine Frau und die beiden Jungen sind tot — deshalb die drei Lichter . . . Und diesen Brief schrieb mir mein Ältester, kurz bevor er fiel. Es stehen da ein paar Sätze drin, die mir nicht mehr aus dem Sinn kommen. An solchen Abenden wie heute hole ich ihn hervor und lese ihn wieder . . ."

 

Er sprach langsam und nachdenklich, er sah dabei an ihnen vorbei mit einem weiten, nach innen gekehrten Blick. „ . . . es stehen da ein paar Worte über die Liebe, und dass ein jeder von uns persönlich verantwortlich sei für 'alle Not und alles Leid, das in der Welt geschieht . . ." — Er wandte sich den Lauschenden zu. „ . . . es ist lange her, dass mir das einmal mein Junge geschrieben hat. Nun, und dass Sie jetzt hier sitzen. . . . ich glaube, das ist letzten Endes sein Werk . . ."

 

Er brach ab, lehnte sich tiefer in seinen Stuhl zurück und sprach fortab kein Wort mehr. Wohlige Wärme durchzog das Zimmer, es war ganz still um sie. Das Kind spielte mit seinen Händen und starrte mit großen Augen in das unbekannte Licht.

 

Aber dann, nach einer Weile, hoben sie ihre Blicke und sahen sich an. Nachdenklich nickten sie sich zu, der Mann, die Frau, der fremde Gastgeber. Sie waren eingekehrt in eine große innere Heimat, Friede erfüllte sie und die Hoffnung, dass sie nun alle irgendwie „zu Hause" seien.

 

 

Helmut Bürgel: Einkehr in der Christnacht

aus: „Sudetendeutsches Weihnachtsbuch“, Aufstieg Verlag, München 1964 – Sammelband „Weihnachtsgeschichten aus dem Sudetenland“ herausgegeben von Gundel Paulsen im Verlag Husum 1984

 

Helmut Bürgel wurde am 27.4.1922 in Toppau geboren. Seine Kindheit verbrachte er in Graz, kam aber zehnjährig zurück nach Troppau. Er war im Verlagswesen tätig und lebte vor seinem Tode im Februar 1984 in Birk bei Siegburg.

 

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