Bundesversammlung 2019

Veröffentlicht am 25.10.2019 in

Würdigung und Motivation zur Fortschreibung

Die „Brannenburger Thesen“, die die Seliger Gemeinde am 31. Oktober 1998 aus den „Vorschläge von Brannenburg“ von 1951, verfasst von Ernst Paul zur föderalistischen Neugestaltung Zentraleuropas entwickelt hat, stellten als Grundsatzdokument für Gegenwart und Zukunft der deutsch-tschechischen Beziehungen für mittlerweile 20 Jahre den Kompass für die Aktivitäten der Seliger-Gemeinde dar.

In den Thesen, appellierte die Seliger Gemeinde an die Nachkriegsvertriebenen wie Tschechen gleichermaßen, sich "aufrichtig mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen". Insbesondere die Festlegung, dass es "keine kollektive Rückkehr der sudetendeutschen Volksgruppe" in die ehemalige Heimat und auch "keine weitgehende Restitution des 1945 enteigneten Vermögens" geben werde, sorgte für Aufregung. Die Seliger Gemeinde war mit diesen Aussagen auf ein sehr unterschiedliches Echo unter den Vertriebenen gestoßen und sie wurden kontrovers debattiert. Sie unterschieden sich klar von den Aussagen der Vertriebenenrepräsentanten, die für alle Sudetendeutschen zu sprechen vorgaben.

Seitens der Sudetendeutschen Landsmannschaft, „traute man seinen Augen nicht“. Von „Irrweg in eine Sackgasse“, von „bitterem Rückschlag aus den eigenen Reihen“ wurden die Brannenburger Thesen betitelt. Eine Uneinigkeit nach außen, die die eigene Rechtsposition gegenüber den Tschechen schwächt, wurde erkannt. Die Thesen sollten „rasch vergessen“ werden. Dass die Brannenburger Thesen gerade in dieser Hinsicht wegweisend waren, zeigte die neue Positionierung der Landsmannschaft 2015.

Bei den tschechischen Sozialdemokraten lösten die Ansätze der Seliger Gemeinde hingegen positive Resonanz aus: Die sudetendeutschen Sozialdemokraten hätten "den Mut gefunden, Worte zu sagen, die heute politisch wenig populär" seien. Dies könne dazu beitragen, auch in Tschechien Feindbilder und Ängste abzutragen, hieß es. Zulange ähnelte sich aber der Umgang der Deutschen und der Tschechen mit der Vertreibung in einem Punkt stark: in dem Bestreben, eigene Verantwortung zurückzuweisen. Deshalb könne ohne einen Austausch von Informationen, keine Versöhnung zustande kommen. Leider nahm die tschechische Öffentlichkeit so gut wie keine Notiz von den Brannenburger Thesen der sudetendeutschen Sozialdemokraten, dieses Manko muss sich für die zukünftige Entwicklung ändern.

Dr. Peter Becher zog bei der Bundesversammlung 2019 ein eindrucksvolles Resümee zu den Entwicklungen der letzten 2 Jahrzehnte und eruierte, was aus den Thesen des Grundsatzprogramms von 1998 geworden ist:

In den zwei Jahrzehnten seit der Verabschiedung der Brannenburger Thesen (1998) hat sich nicht nur die Seliger-Gemeinde einschneidend verändert, sondern auch der engere Rahmen der deutsch-tschechischen Beziehungen und der weitere Rahmen der Europäischen Union.

Die Europäische Union hat mit der Einführung des Euro (2002), der Osterweiterung (2004) und der Ausweitung des Schengenraums (2007), der auch Reisen nach Tschechien spürbar vereinfacht, viele Fortschritte gemacht. Seit dem Ende der 7jährigen Übergangsfrist (2011) gilt die Arbeitnehmerfreizügigkeit auch für Tschechen, Deutsche können in Tschechien Privateigentum erwerben. Mit der Finanzkrise, der Migrationsproblematik, dem Brexitschock und dem Lautwerden rechtsextremer Strömungen hat die EU zugleich einen Zuwachs an Spannungen in Kauf nehmen müssen, der viele Menschen verunsichert und pessimistisch stimmt. Terroranschläge wie sie u.a. in Paris (Charlie Hedbo 2015), Brüssel (2016) und Berlin (Weihnachtsmarkt 2016) stattfanden, bestärkten die Befürchtung, dass mit der Aufnahme der Migranten auch muslimische Attentäter in Europa Unterschlupf finden, rechtsmotivierte Anschläge wie die Mordserie des NSU (2000-2006), der Amoklauf in München (2016) und die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübke (2019) tragen zur Verbreitung des Gefühls bei, dass in Europa eine wachsende Radikalisierung gewaltbereiter ideologisch motivierter Gruppen stattfindet.

Auch in den deutsch-tschechischen Beziehungen haben sich gravierende Veränderungen ergeben. Bereits die Einrichtung der Euregio Egrensis (1993) und der Euregio Bayerischer Wald — Böhmerwald (1993) vermittelte neue Möglichkeiten des Austausches und der Zusammenarbeit. In der Folge der deutsch-tschechischen Deklaration von 1997 wurde der deutsch-tschechische Zukunftsfonds etabliert, der seitdem zahlreiche Projekte fördert. 1999 trat Tschechien der NATO bei, 2004 der Europäischen Union. Seitdem sind die bilateralen Beziehungen in einen militärischen und politischen Bündnisrahmen eingespannt, der Sicherheit garantiert und den wirtschaftlichen Austausch fördert. Die Würdigung sudetendeutscher Antifaschisten (2005 ff.) war ein weiteres Zeichen der Entspannung, wofür Jiří Paroubek 2007 den Wenzel-Jaksch-Gedächtnis-Preis erhielt. 2010 folgte die erste Reise des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer nach Prag, der 2011 eine zweite folgte. 2013 sprach der tschechische Ministerpräsident Petr Nečas im Bayerischen Landtag, 2014 wurde die Bayerische Repräsentanz in Prag eröffnet, 2016 besuchte Ministerpräsident Bohuslav Sobotka erneut den Bayerischen Landtag und überreichte bei dieser Gelegenheit der damals 95jährigen Olga Sippl die Karel-Kramář-Medaille.

In der Seliger-Gemeinde ließ sich der Rückgang der Mitgliederzahlen trotz erfreulicher Neuzugänge nicht aufhalten. Die Treuegemeinschaften im Ausland (Schweden, Kanada) lösten sich ebenso auf wie viele Ortsgruppen in Deutschland, die Regionalgruppen schrumpften weiter. Im Mai 2019 zählte der Verband noch 568 Mitglieder darunter 53 in Baden-Württemberg, 378 in Bayern, 45 in Hessen, 34 in der Regionalgruppe Nord und 58 im Ausland (Kanada, Österreich, Schweden). Die Zeitschrift „Die Brücke. Nachrichten aus Deutschland und Europa" ist mit der 6. Nummer des 56. Jahrgangs am 15.12.2002 zum letzten Mal erschienen und wird seitdem durch ein gleichnamiges Nachrichtenblatt in Kleinformat fortgeführt. Ebenfalls eingestellt wurde das ,,Sudeten-Jahrbuch der Seliger-Gemeinde", das 2003 mit dem Freundschaftsband zum 80. Geburtstag Volkmar Gaberts ein letztes Mal erschien. Viele herausragende Repräsentanten sind verstorben, darunter Arthur Schober (1999), Volkmar Gabert (2003), Heinz Kreutzmann (2005), Otto Seidl (2013), Erich Sandner (2015) und Max Mannheimer (2016). Ein kleiner Lichtblick: Die Ausstellung „Von der DSAP zur Seliger-Gemeinde", die u.a. 2010 im Bayerischen Landtag gezeigt wurde, erhielt eine erfreuliche Resonanz.

Der Rückgang ist unübersehbar und auch für andere Verbände der Vertriebenen kennzeichnend - 75 Jahre nach Kriegsende. Wir befinden uns in einer Phase, in der sich der Schatten des Dritten Reiches endgültig auflöst, die letzten Zeitzeugen von uns gehen und mit ihnen persönliche Erinnerungen an Verfolgung, Widerstand, Exil, Krieg und Vertreibung ebenso verschwinden wie an die Jahre des Neuanfangs nach 1945. Das heißt jedoch nicht, dass wir „den Laden einfach dicht machen" sollten, weil seine geschichtliche Stunde der Vergangenheit angehört, sondern dass wir genau analysieren sollten, welche Aufgaben sich daraus ergeben und welche Aufgaben wir verfolgen können.

Was die Seliger-Gemeinde in Zukunft leisten kann, ist zu bewahren, zu erinnern, zu mahnen und kritisch zu begleiten. Wir sollten unsere Stimme dort einbringen, wo wir eine Geschichte, einen Namen, einen (kleinen) politischen und einen (nicht zu unterschätzenden) moralischen Einfluss haben: auf dem Gebiet der deutsch-tschechischen Beziehungen.

Volkmar Halbleib, vertriebenpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion, gratulierte uns in seiner Rede zu „70 Jahre Bundesrepublik und Seliger-Gemeinde“ zu „wichtigen und richtigen“ Impulsen, die wir trotz überschaubarer Mitgliederzahlen setzen können. Auch er sieht die Brannenburger Thesen „zum großen Teil erfüllt“. Die Seliger-Gemeinde habe über den Horizont der deutschen Sozialdemokratie geführt (Vielvölkerstaat) und u.a. den Internationalismus (Exil, Emigration) gefördert. Die Seliger Gemeinde fordere die Sudetendeutschen auf, sich mit der eigenen Geschichte auseinander zusetzen und brachte eine attraktive Vision ins Spiel: Zukunft statt Restitution der Vergangenheit. Der bayerische Dialog mit Tschechien, nicht zuletzt von Christa Naaß im Bayerischen Landtag angestoßen, sei ein Erfolgsmodell. Die Europaproklamation 2016 der Seliger Gemeinde bezeichnete Halbleib als „einen dieser starken Impulse für eine gemeinsame Zukunft und gegen negative Entwicklungen. Flucht, Vertreibung und Verfolgung seien heute weltweit so aktuell wie damals. Europa sei hierbei nicht das Problem sondern die Zukunft.

Dem Präsidium obliegt es nun, ein neues Grundsatzprogramm, die Alexandersbader Thesen zu erarbeiten und zu verabschieden. Erste Ideen und Formulierungen habt eine Arbeitsgruppe bereits erarbeitet und zur Diskussion gestellt.

 

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