seliger-online 18.03.2024

Veröffentlicht am 21.03.2024 in Allgemein

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20 Jahre gemeinsam in der EU. Wie geht es für Deutsche und Tschechen weiter?

Die Seliger-Gemeinde im Gespräch mit Vladimír Špidla, dem ehemaligen tschechischen Premierminister und ehemaligen EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit.

Am 1. Mai sind es 20 Jahre, dass die Tschechische Republik Mitglied der Europäischen Union wurde. Viele sehen die EU als das feste Fundament, das sich gegen die großen Wirrungen und Herausforderungen unserer Zeit stemmt. Andere hingegen kritisieren die mangelnde Reformbereitschaft der EU, ihre Bürokratie. Zum gemeinsamen Haus Europa scheint es unterschiedliche Meinungen zu geben. Christa Naaß konnte zu diesem spannenden Dialog rund 25 Teilnehmer aus dem ganzen Bundesgebiet und natürlich unseren Gast Vladimír Špidla begrüßen.

Vladimír Špidla, geboren am 22. April 1951 in Prag ist Mitglied der SOCDEM (ehm. ČSSD).  Ab 1996 war er Parlamentsabgeordneter, 1997 wurde er Stellvertretender Parteivorsitzender, ab 1998 Arbeitsminister im Kabinett von Miloš Zeman. Ab April 2001 trat er dessen Nachfolge als Vorsitzender der sozialdemokratischen Partei an. Ab Juli 2002 war Špidla Ministerpräsident der Tschechischen Republik und leitete eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten, Christdemokraten und der Freiheitsunion. Nach der Niederlage seiner Partei bei den Wahlen zum Europaparlament und innerparteilichen Auseinandersetzungen trat er am 26. Juni 2004 von seinem Amt zurück. Vladimír Špidla war dann von 2004 bis 2010 EU-Kommissar für Beschäftigung, soziale Angelegenheiten und Chancengleichheit sowie von 2014 bis 2017 Berater von Premierminister Bohuslav Sobotka. Von 2011 bis 2022 übernahm Špidla als Direktor die Masaryk-Akademie für Demokratie und ist noch immer eng in deren Arbeit eingebunden. Außerdem ist er Mitglied im Circle of Friends des Progressiven Zentrums.

„Vladimír Špidla und die Demokratische Masaryk-Akademie waren und sind wichtige Partner der Seliger-Gemeinde, weshalb ihm in diesem Jahr am 26. Oktober anlässlich des Vertriebenenempfangs der BayernSPD-Landtagsfraktion in München der Wenzel-Jaksch-Gedächtnispreis verleihen wird“, schloss Christa Naaß ihre Einführung. Špidla bedankte sich für die Einladung und fühlt sich sehr geehrt, den Wenzel-Jaksch-Preis zu bekommen. Das bedeute ihm sehr viel.

Eine Erfolgsgeschichte

20 Jahre Tschechische Republik in die EU – Vladimír Špidla bewertet dies im Rückblick der letzten 20 Jahre als eine Erfolgsgeschichte. „Wir haben wirtschaftliche und soziale Stabilität, das Lebensniveau hat sich erhöht“, so Špidla. Die Bewertung sei aber nicht so einfach, weil komplizierte politische Fragen vielen Menschen Angst machten. Die Europäische Gemeinschaft sei eine ganz menschliche Sache, ein Produkt der Geschichte, so was sei nie ganz ohne Fehler, so Špidla weiter. Für die Tschechen, die vorher in einem kommunistischen System lebten, habe sich alles verändert. Im Gegensatz zu  Ostdeutschland, das im Prozess der Wiedervereinigung große Unterstützung aus der BRD bekam, musste die Tschechische Republik diese Veränderungen alleine stemmen.

Und heute? Seit 2008, dem Beginn der Finanzkrise, hätten die Menschen erlebt, dass nicht alles automatisch besser werde. Alle dachten es gehe immer nur aufwärts - nach der Krise gehe nichts automatisch, so Špidla.

Die Tschechische Republik suchte neue Positionen und baue die guten Beziehungen zu Deutschland zu einer strategischen Zusammenarbeit aus. So was habe Deutschland nur noch mit Frankreich. Dies sei ein großer Erfolg, zeigte sich Špidla überzeugt.

Wichtig sei auch, so Špidla weiter, dass die geschichtlichen Fragen im Prinzip bewältigt wurden. Die „Deutsche Frage“, lasse sich nicht mehr instrumentalisieren.

„Wie kann es gelingen, dass auch in Zukunft, in Deutschland und Tschechien, ja europaweit, das europäische Projekt Erfolg haben kann“, fragte Christa Naaß ihren Gast?

„Wenn man ehrlich ist, gab und gibt es kein wirkliches Interesse an der Tschechischen Republik. Egal ob an Universitäten, in Schulen – die Wissenschaft interessiere sich nicht für den Nachbarn“, antwortete Špidla. Das Hauptaugenmerk der Oststudien lag auf Russland, und etwas auf Polen. Es gab etwas Bohemistik, selbst das gebe es aber heute nicht mehr. „Deshalb müssen kulturelle und menschliche Beziehungen gepflegt werden“, so Špidla Ressume und Auftrag.

Auf die Frage „Wie geht es weiter?“ antwortete der Gast: „Die Tschechische Republik ist ein Teil der EU. Wir teilen Erfolge und Misserfolge, unser aller Schicksal ist durch die EU geprägt.“ Dabei sei die Europäische Gemeinschaft nur ein „Werkzeug“ in der gegenwärtigen geopolitischen Situation. Die Zusammenarbeit in der EU sichere unsere Identität und Souveränität. Es gelte sich gegenüber der anderen großen Wirtschaftsmächte (USA, China, Indien,…) als „Europa“ zu behaupten – alle Einzelstaaten wären viel zu klein.

Christa Naaß erinnerte daran, dass es nicht gut sei, sich auf seinen Erfolgen auszuruhen, es gelte weiterzuarbeiten im Blick auf andere Länder in der Europäischen Union die aber EU-skeptisch sind. Die demokratischen Kräfte müssten gestärkt werden.

Tschechien als Mitglied der NATO

Die Tschechische Republik ist auch seit nunmehr 25 Jahren Mitglied der NATO, die gerade eine Renaissance angesichts des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine erlebe. Finnland und Schweden sind neue Mitglieder. Christa Naaß wollte von ihrem Gesprächspartner wissen, wie er ein EU-Verteidigungsbündnis angesichts der Situation in den USA einschätze.

Vladimír Špidla bezeichnete die NATO im Prinzip auch nur als ein Werkzeug in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, vor allem im Kalten Krieg um die Weltordnung aufrecht zu erhalten. Heute sieht Špidla den Schwerpunkt der amerikanischen Militärstrategie in der „maritimen Macht“ und der Kontrolle beide US-Küsten. Vladimír Špidla ist sich sicher, dass die USA die NATO schwächen werden, weil die Küstenkontrolle, nicht die Verteidigung Mitteleuropas, im US-Fokus stehe. Damit sei die Sicherheit Tschechiens und Mitteleuropas nur über die EU, über eine europäische Armee möglich. Dies sehe er aber als derzeit nicht ganz realistisch an. Es gelte daher die europäische Säule in der NATO mit eigenen Kapazitäten handlungsfähig zu machen – und ggf. ohne die USA zu bestehen. Špidla erinnerte an den NATO-Vertrag, der besagt, dass die Partner sich helfen müssten, er besagt aber nicht, dass sie sich militärisch engagieren müssten.

Der Ukrainekonflikt habe diese Einsicht beschleunigt, die Entwicklung sei klarer, ginge schneller. Auf jeden Fall müsse erkannt werden, dass die baltischen Staaten am gefährdetsten seien. Eine Einsicht, die die osteuropäischen Staaten schon lange vertreten würden. Sie müssten gegebenenfalls von allen anderen Europäern gemeinsam verteidigt werden. Die Russen hätten der Ukraine zweimal die Grenzen garantiert – aber man sehe, was eine solche Sicherheitsgarantie wert sei.

Die Klimaveränderung

Christa Naaß ging auf eine weitere Herausforderung unserer Zeit, die Klimaveränderung ein und berichtete, dass Vladimír Špidla aus der Umweltbewegung komme. Selbst in seiner Biographie schreibt er „die Ressourcen sind da“. Seine Lösungsansätze zeigten, dass die Probleme ohne Europa nicht zu beherrschen sind. Entgegen der Aussage der Rechten: „Es gibt kein Geld“ behauptet Špidla, dass eine moderne Gesellschaft immer genug Ressourcen habe, lediglich die Prioritätensetzung, was man daraus mache, sei ausschlaggebend. „Die Hauptressource, die wir haben, ist unser Wille und unsere Möglichkeit das Handeln!“ Nichts sei auf nationaler Ebene lösbar. Die Klimaveränderung und die ökologischen Fragen sind für Špidla die wichtigsten Themen, sogar wichtiger als der Ukrainekrieg. Dieser sei eine Katastrophe, ja, „aber richtige Probleme bekommen wir aufgrund der Klimaveränderung“.

Dies sei auch ein Problem der Sozialdemokratie. Unsere ganze Linie war seit 100 Jahren „aufwärts“ und der Glaube an das Wachstum, so Špidla. Die ökologische Wende sei wichtig und tiefgreifend, die Sozialdemokratie muss erklären, wie man die Lasten gerecht umverteilen kann. Bisher habe man das Wachstum umverteilt, in der neuen Epoche heißt es für die Sozialdemokratie, Lasten zu verteilen. Nur habe man dazu bisher aber keine Idee. Špidla sieht das als Chance für die Sozialdemokratie in Deutschland, in Tschechien und in ganz Europa. Es gelte mit der Bevölkerung zu diskutieren, wie die Gesellschaft in Zukunft gerechter wird.

In der anschließenden Diskussion ging es um die Europawahlen, bei denen Vladimír Špidla aufgrund der Erkrankung seiner Frau nur auf einem hinteren Rang kandidiert: „Jeder muss seinen Teil dafür tun“. Špidla gab einer jungen Kandidatin aus der Zuhörergruppe Tipps für den Wahlkampf und erinnerte daran, dass es vor allem darum gehe, anständig und mit Respekt miteinander umzugehen. Im politischen Geschäft sei die Zahl der Handelnden sehr gebrenzt und man treffe sich immer öfter im Polit-Leben – da sei es wenig hilfreich, wenn man den anderen schon mal gedemütigt habe. Besser sei es, den anderen zu respektieren und sich zu bemühen, Kompromisse zu finden. Jeder habe eine begründete Meinung - auch der politische Gegner. Schließlich meinte Špidla: „Politik hat immer Zeit“, nur selten müssten Entscheidungen sofort und endgültig getroffen werden.

In der Abendschule zu den Grundlagen der Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokratie referierte anschließend Dr. Thomas Oellermann zum Thema „Europa und die Sudetendeutsche Sozialdemokratie“. Ein Thema, dass die Seliger-Gemeinde 2024 mit vielen Beiträgen und Aktionen begleiten wird.

Diese seliger-online-Veranstaltung wird als Video auf unserem YOUTUBE-Kanal zur Verfügung gestellt. Auch die anschließende Abendschule kann jederzeit als Podcast nachgehört werden.

Die Veranstaltung fand mit großzügiger Unterstützung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages statt.

 

 

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