seliger-online 04.12.2023

Veröffentlicht am 06.12.2023 in Allgemein

Nie wieder! Sudetendeutsche Antworten auf den Rechtsradikalismus von heute

seliger-online mit dem Publizisten und Aussteigeraus der Neonazi-Szene Christian Weißgerber

Als 1938 das Zusammenleben von Tschechen, Juden und Deutschen in den böhmischen Ländern endete, war dies zum einen eine Folge der aggressiven Expansionspolitik des nationalsozialistischen Deutschlands. Zum anderen war es aber auch das Resultat einer Radikalisierung der sudetendeutschen Gesellschaft. Die sudetendeutsche Sozialdemokratie, in deren Tradition die Seliger-Gemeinde steht, hatte sich bis zuletzt gegen diese Radikalisierung gestemmt. Letztlich wurden sudetendeutsche Sozialdemokraten für ihre demokratische Überzeugung verfolgt. Die Seliger-Gemeinde sieht sich vor dem Hintergrund dieser tragischen Geschichte verpflichtet, sich gegen rechtsradikale Bestrebungen zu stellen. Der 1989 in Eisenach geborene Christian Weißgerber studierte Kulturwissenschaften und Psychologie und arbeitet jetzt u.a. in einem Unternehmen für erneuerbare Energien. In seiner Doktorarbeit schrieb er zum Einfluss digitaler Medien auf Radikalisierungsprozesse und ist als Aussteiger und freiberuflicher Bildungsreferent in Schulen und Talkshows als Experte gefragt. In jungen Jahren war er aktiver Teil der Neonazi-Szene in Thüringen. Im Gespräch mit ihm ging es vor allem um die Fragen "Wie kommt es zur Radikalisierung?" und "Wie kann man Rechtsradikalismus begegnen?"

Es war gut, sich deutsch zu fühlen

Der Referent stellte sich kurz persönlich vor und erläuterte gleich, wie es zu seinem Eintritt in die rechte Szene kam. "Die Region Eisenach steht für deutsche Kultur. Mit der Wartburg und Martin Luther ist hier Kultur als Exportgut positiv besetzt. Es war gut, sich deutsch zu fühlen". Auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Schule fand er spannend. "Wie konnten die Nationalsozialisten nur böse sein, wenn meine Großeltern da aus Überzeugung dabei waren", fragte er sich der damals 15Jährige auch mit dem immer wieder relativierenden Aussagen "es war ja nicht alles schlecht", zumindest Hitlers Autobahnen waren ja bemerkenswert. Hinzu kam, so der Referent, dass auch in Schule und Gesellschaft der „gewöhnliche Alltagsrassismen" herrschte und eine Weltsicht hervorbrachte, die am Ende nur noch eine Sichtweise erlaubt: Entweder die oder wir.

Hinzu kam, dass er als Schüler eines humanistischen Gymnasiums ein gewisses "Elitebewusstsein" anerzogen bekam. "Wir wurden dazu angehalten, vor allem Autoritäten kritisch infrage zu stellen und selbständig zu agieren", erklärte Weißgerber. Hinzu kam die Pubertät, alltägliche Krisensituation - und die Fragen des Jugendlichen "Was ist hier los? Wo gehöre ich hin?" - Bei diesem Bildungsprozess für Körper und Geist, so Weißgerber weiter, gehe die Entwicklung bestenfalls in eine demokratisch, antifaschistisch Richtung oder eben die "Nazibildung" durch Bücher, Texte, Vorträge gewinne die Oberhand. „Dort fühlte ich mich zum ersten Mal ernstgenommen“, so der Referent. Es komme zur Radikalisierung, "denn man muss auf das Äußerste vorbereitet sein". Dabei kam ihm zugute, dass er Kompromisse verabscheute, sich auserwählt glaubte und meinte eine Mission zu haben.

Die deutschen Tugenden

Dabei spielten Glaubenssätze, Verhaltensweisen, heilige Orte, Rituale, Festtage eine wichtige Rolle - vergleichbar mit einer Religionsgemeinschaft. Für den Jugendlichen bedeutete das die Kontrolle über das eigene Leben, ja über die Welt. Im Schoße des ,deutschen Volkes‘ fühlte er sich geborgen. "Man weiß was man tun muss! Ein echter Deutscher ist pünktlich und aufrecht", nichts wogegen es etwas zu sagen gäbe. Schnell wird der Zuhörer an Forderungen nach den "deutsche Tugenden" erinnert, wie sie unlängst beim Spiel der deutschen Nationalmannschaft gefallen sind! Weißgerber erzählte, wie er durch Aussagen und Befürchtungen seines alleinerziehenden Vaters den demographischen Wandel als echtes Bedrohungsszenario erlebte: "Das grandiose Deutschland geht unter, Deutschland schafft sich ab, durch eine falsche Familienpolitik" und schuld daran sind die Migranten und die Regierung. Gegen diesen "Volkstod", die Umformung der Gesellschaft "ist Gegenwehr Bürgerpflicht. Es besteht eine echte Notwehrsituation im Kulturkampf gegen die Islamisierung!"

Es ist entspannend Nazi zu sein

Für ihn, so Weißgerber weiter, war es entspannend, Neonazi zu sein. Er wurde zwar überall angefeindet, glaubte aber fest daran richtig zu liegen - und hatte für alle Probleme eine einfache Lösung. Hinzu kam die Motivation und die  Möglichkeit dazugehören: Treffen zur Buchpräsentation im 4-Sterne-Hotel, die Musik, die exklusiven Zirkel - "das haben clevere Leute gut organisiert", so der Referent, der zum Chefideologen der „Autonomen Nationalisten“ aufstieg. Mit Filmen, Liedern, Wandern, Ausflüge zu Trauermärschen - Demos kamen für Kinder nicht in Frage, da hätten die Eltern zu sehr protestiert, wenn die Polizei den Nachwuchs nach Hause gebracht hätte - wurden die Kinder da abgeholt, wo man sie erreichen konnte.  "Es galt das Führerprinzip und ich war einer davon", so Weißgerber - jedoch mit dem Hinweis, dass für gute Leute Autoritäten aber problematisch sind. Deshalb habe man sich "linker Strukturen bedient und den "autonomen Nationalismus" entwickelt mit Plenum und Abstimmungen, bevor man zur Tat schritt. Als Teil der autonomen nationalistischen Szene predigte er Konsumverzicht begonnen. Das bedeutete kein Alkohol, kein Nikotin, kein Koffein. "Wir wurden damals militante Veganer und haben uns den Lifestyle linker Gruppierungen angeeignet".

Auch viele neue Betätigungsfelder wurden eröffnet:  NS-RAP, Computerspiele gegen Böhmermann und Co. Auch das Auftreten nach außen wandelte sich: Gerd Schröders "Aufstand der Anständigen" führte letztendlich zur Bildung schwarzer Blöcke (Antifa-Kopie) gegen die Polizei und "Gewalt auf Befehl", um die Kontrolle in der Region zu behalten. Auch die ehemalige RAF wurde zum Vorbild bei der antikapitalistischen und antisemitischen Aktion. Die rechte Szene sei sehr differenziert und nutze die sozialen Medien sehr gut, vor allem die AfD und die Identitären. Hierbei seien die Gruppen geprägt von einem konzentrischen Aufbau mit einem kleinen militanten Kern mit immer weiter reichenden Kreisen. Dabei entstehe ein "rechtsextremes Mosaik verschiedener Brauntöne". Das große Ganze bestehe aus vielen Teilen, ohne Bezug zueinander. Es gebe offene, halboffene und geheime Strukturen - ein Netzwerk aus Firmen und Immobilien mit guter Logistik. Finanziert werde das alles durch Konzerte und AfD-Mandate - wieder agiert die AfD als Bindeglied.

Es ist viel schwieriger raus als rein zu kommen

Doch wie kam es nach sechs Jahren 2010 zu seinem Ausstieg, fragte Moderatorin Christa Naaß. Hierbei, so Weißgerber waren staatliche Aussteigerprogramme wenig erfolgreich, da sie ja Teil des Feindbildes waren. Für Weißgerber war es das fragwürdige Selbstbild bis hin zum "Größenwahn mit hoher Fallhöhe". Er wollte die Welt verändern. Ausschlaggebend war die Isolation im Philosophie-Studium - keiner wollte etwas mit ihm zu tun haben. Außerdem bliebt der Erfolg aus - die Welt drehte sich weiter. Beim Ausstieg, wie beim Einstieg, greifen mehrere Faktoren wellenartig ineinander, so Weißgerber. Dabei sei es natürlich viel schwieriger raus als rein zu kommen. So wie er, habe man sein Standing, man sei wer in der Szene, sei bekannt - und plötzlich sind alle Sozialkontakte weg, man sei in Gefahr bis hin zu Todesdrohungen. Außerdem müsse man die erlernten Automatismen abbauen, was sehr schwer sei. Hinzu komme, dass man sich bei der Deradikalisierung der Selbsterkenntnis stellen müsse. Man muss akzeptieren was man getan hat. An dieser Stelle wandte sich Weißgerber an eine Aussteiger-Organisation.

In der anschließenden Fragerunde ging es um die Rolle der Frauen in der Szene, die Weißgerber mit etwa 35 Prozent angab. Hier sei die Ablehnung von Frauenrechten und das konservatives Rollenbild ein Hindernis. Nur wenige Frauen fühlen sich durch "Deutsche Mutter"-Narrativ angesprochen um "Volk und Rasse zu retten". Ein weiteres Thema war die Konzentration der rechten Szene auf die neuen Bundesländer, vor allem Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt. Weißgerber erklärte das damit, dass der demographische Wandel im Osten viel stärker zu spüren sei, da fast alle Jungen weg sind. "Da hat man Angst, dass keiner mehr übrigbleibt der für deine Rente zahlt oder dich später einmal pflegen wird", so Weißgerber in Erinnerung an die Tiraden seines Vaters, der der Arbeiterschaft entstammte. Außerdem werde kein positives Bild des Ostens geschaffen, es fehle an Identitätsmöglichkeiten. Hinzu komme, dass die Rechten die ostdeutschen Länder als den Rest vom ursprünglichen stolzen Deutschland darstellten, den man gegen Migration und Islamisierung schützen müsse. Hier ist es leicht die "Speerspitze des avantgardistischen Widerstands" zu formen.

Die deutsche Gesellschaft produziert Rechtsradikale

Abschließend erklärte Christian Weißgerber in der Diskussion, dass seiner Meinung nach, die deutsche Gesellschaft selbst Rechtsradikale produziere. Neben den eingangs dargestellten fehlenden Bezugspunkten für intelligente junge Leute, würde die breite Bevölkerung den Gender-Wahn, die Klimadebatte, das hoffieren von Randgruppen als unwichtiger Unsinn abtun und die klassischen Arbeiter würden sich so gegen das Bildungsbürgertum abgrenzen. Dies sei auch der Grund, warum so viele Arbeiter und Gewerkschafter zur AfD wechselten. Diese habe auch noch den Vorteil, bisher nicht Teil des Leids gewesen zu sein. Hier habe die Union durch die Treuhand und die SPD durch die Agenda 2010 ihre Glaubwürdigkeit verspielt. Nun läge die Hoffnung bei der AfD.

Zum Schluss stellte Thomas Oellermann Christian Weißgerbers Buch "Mein Vaterland! Warum ich ein Neonazi war" vor. In einer Mischung aus autobiografischen Episoden und politisch-psychologischer Analyse liefert Weißgerber eine einzigartige Studie der Selbstradikalisierung, insbesondere in den ostdeutschen Ländern der Nachwendezeit bis hin zu den Wutbürgern in Ost und West.
Das Buch ist auf Deutsch oder Tschechisch für 18 Euro (+ Versandkosten) noch über die Seliger-Gemeinde erhältlich - im Buchhandel ist es ausverkauft.

Diese seliger-online-Veranstaltung wird als Video auf unserem YOUTUBE-Kanal zur Verfügung gestellt. Auch die anschließende Abendschule mit Thomas Oellermann zum Thema Sudetendeutsche Sozialdemokraten, die die Seite wechselten und ehemalige Nazis in der Seliger-Gemeinde“ kann jederzeit als Podcast nachgehört werden.

 

Die seliger-online-Veranstaltungen finden mit großzügiger Unterstützung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat aufgrund eines Beschlusses des Deutschen Bundestages statt.

 

 

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