seliger-online 21.6.2023

Veröffentlicht am 23.06.2023 in Allgemein

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Ferien und Urlaub in der sudetendeutschen Sozialdemokratie

In der Abendschule zu den Grundlagen der Geschichte der sudetendeutschen Sozialdemokratie stellte Dr. Thomas Oellermann nach dem Gespräch mit Blanka Návratová, der Direktorin des Tschechischen Zentrums München, die Urlaubsreiseorganisation (URO) der DSAP vor.

Zu den Errungenschaften der Arbeiterbewegung gehörte auch der bezahlte Urlaub. Umso nötiger war die Erholung angesichts der schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen. Zuerst war das Wandern eine beliebte Freizeitbeschäftigung, doch bald lockte die Ferne. Reisen im In- und Ausland kamen in Mode, erste Pauschalreiseanbieter entstanden. Die böhmische Arbeiterbewegung wollte auch hier nicht das Feld nicht den kommerziellen Anbietern überlassen.

1924 entstand auf Initiative der DSAP, des Kreisbildungsausschusses Bodenbach und der dortigen Gruppe des Zentralverbandes der Angestellten die Urlaubsreisenorganisation (URO). Über die Ziele der URO, die ehrenamtlich geführt wurde und nicht auf Reingewinne abzielte, schrieb Ernst Paul 1926 in der eigens herausgebrachten Zeitschrift „Aufstieg“: „Und deshalb haben wir eine Reiseorganisation geschaffen, um möglichst vielen Menschen das Erleben einer Reise zu vermitteln. Was dem Einzelnen aus Gründen… nicht möglich ist, das schafft die Organisation. Sie verbilligt die Reise, spart Zeit und Nervenkraft und bietet zahlreiche andere Vorteile.“ Selbst Reisen nach Italien wurden plötzlich erschwinglich.

Zum vorrangigen Reiseziel entwickelte sich deshalb Italien. In wie weit die klassischen Arbeiter ihre sechs Urlaubstag in Italien verbrachten lässt sich schwer abschätzen, da keine Teilnehmerlisten vorliegen. Dankeszuschriften deuten an, das mit „Bankbeamter Fritz Schulze“ sowie „Med. Univ. Dr. J. Sassower“ die Reisen wohl überwiegend von Angehörigen der Mittelschicht gebucht wurden – u.a. aus Prag, aus Dresden oder Leipzig. Reisegruppen bis zu 50 Personen sind durch Urlaubsfotos im „Aufstieg“ belegt und eine Reise kostete zwischen 1200 Kč (14 Tage) und 2280 Kč (28 Tage) für Reise, Unterkunft und Verpflegung. Geworben wurde u.a. in der Glasarbeiter-Zeitung, im „Land- und Forstarbeiter“ oder im „Berg frei“ der Naturfreunde.
 

Fahrten nach Italien gehörten ab 1926 zum ständigen Programm der URO. So konnte für den August 1927 eine Mittelmeerrundreise Venedig, Florenz, Rom, Neapel mit einer anschließenden Dampferfahrt nach Triest gebucht werden. Als Hauptdestination der URO in Italien kristallisierte sich nach einer gewissen Zeit Abbazia heraus. Dieser Kurort hatte bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den Hauptdestinationen von Touristen aus dem Habsburgerreich gehört. Mit Pauschalreisen nach Abbazia sollte „das Land der Sehnsucht Wirklichkeit werden“. Die URO warb wie folgt für eine Reise an die Adria: „Abbazia darf mit Recht als die Perle der Adria bezeichnet werden. Neben größtem Komfort bietet Abbazia alle klimatischen Voraussetzungen zur Entspannung der Nerven und verfügt neben lebhaftem Badebetrieb über eine zu Ausflügen hervorragend geeignete prachtvolle Umgebung.“

In den 1920er Jahren erwarb die URO Anteile an der, Ende des 19. Jahrhunderts erbauten „Villa Salus“. In dieser Pension wurden von nun an die Reisenden untergebracht. „Ein schmuckes Haus in dichtem Grün. Weite, behaglich eingerichtete Zimmer, in denen man sich im Nu wie zu Hause fühlt. Balkone geben den Blick aufs Meer frei. …Und diese „Villa Salus“ in der Kvarner Bucht gibt es fast unverändert noch heute.

Politik und Tourismus

„Ungern scheiden alle von Italien, obwohl das faschistische Regime, das man selbst in den wenigen Tagen spürt, keinen begeistert. Im Gegenteil! Also dass es den URO-Reisenden in der „Villa Salus“ in Abbazia so ausgezeichnet gefällt, liegt nicht am Faschismus, es liegt an der herrlichen Natur, an dem prächtigen Klima und an den Impressionen, den guten Eindrücken“. - Ein Zitat aus einem Reisebericht nach Abbazia in dem sich die Frage widerspiegelt, wie verantwortungslos es von der URO war, Reisen in das faschistische Italien anzubieten.

Der italienische Faschismus war bereits seit Beginn der 1920er Jahre ein wiederkehrendes Thema von Vorträgen und Publikationen. 1926 referierte Julius Deutsch auf einer Vortragsreihe durch die Tschechoslowakei über den Faschismus. Solche Abende hatten zumindest in den 1920er Jahren eine große Verbreitung. Ebenso wurde der italienische Faschismus in den unterschiedlichen Organen deutlich kritisiert und abgelehnt. 1926 wurden im „Eisenbahner“ die Ermordung Matteottis, das Verbot der freien Gewerkschaften und die Verhaftungswelle gegen Gegner des Faschismus aufgegriffen. Vor dem Hintergrund dieser breiten ablehnenden Haltung des italienischen Faschismus erscheinen die Reiseangebote der URO an die Adria umso verwunderlicher. Dabei war man sich auch der Gefahren solcher Reisen bewusst. 1927, ein Jahr nachdem die URO ihren eigentlichen Betrieb aufgenommen hatte, warnte der „Sozialdemokrat“ vor unbedachten Äußerungen, wünschte aber zugleich: „Also viel Vergnügen für eine Italienreise!“

 

Auch diese Folge der Abendschule können Sie jederzeit als Podcast anhören!

 

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